Suizide hinterlassen Spuren. Dies geschieht vor allem in den Seelen derjenigen, die weiterleben. Es sind Angehörige und andere lebenslange Begleitende, es sind Ersthelfer, Ersthelferinnen und Krisen-Fachleute. Das Buch »Was tun nach einem Suizid?« bringt nun zur Sprache, was häufig unausgesprochen bleibt oder gar tabuisiert wird. Die Pflegefachfrau Andrea Walraven-Thissen weiß, wovon sie schreibt. International hat sie in Krisenteams mitgearbeitet. So gelingt es ihr in dem vorliegenden Werk, viele Erfahrungen und Erlebnisse theoretisch zu untermauern und zu reflektieren.
Mit dem Buch hat sie diejenigen Menschen im Blick, die im besten Sinne überleben (müssen). Dabei beschreibt sie Szenen, wie fremde Menschen Leichen finden. Sie blickt darauf, wie man Verwandte nach einem Suizid informiert. Sie liefert insbesondere auch Anregungen zur richtigen Art, über Suizid zu sprechen. So stellt sie fest, dass es Situationen nach einem Suizid gebe, »die die Kommunikation erschweren« (S. 143). Es sei beispielsweise »unglaublich schwierig« (S. 143), wenn Suizidmethoden auf viel Wut und Aggression gegenüber anderen schließen lassen. Walraven-Thissen konstatiert: »Wir können den größten, durch Suizid verursachten Primärschaden nicht verhindern […] Suizid-Postvention kann jedoch Sekundärschäden verhindern, wenn wir eine Situation schaffen, in der Menschen das Gefühl haben, unterstützt und gehört zu werden, in der sie offen sprechen und sowohl positive als auch negative Gefühle zum Ausdruck bringen dürfen.« (S. 143)
Leichter gesagt als getan, werden die Leserinnen und Leser, die Praktikerinnen und Praktiker klagen. Sich mit Walraven-Thissen auf die Suche nach der Suizid-Postvention zu machen, bedeutet gleichzeitig, von den praktischen Erfahrungen Walraven-Thissens zu profitieren. Die Autorin blickt in gleicher Weise auf die Individuen, die den Umgang mit Suiziden erlernen müssen, und die unterschiedlichen Systeme, in denen sich die Menschen bewegten, als sie noch lebten. Von der Umsichtigkeit Walraven-Thissens lebt das Buch, von der Umsichtigkeit ziehen die Lesenden den Nutzen.
Wie es sich für ein gutes Fachbuch gehört, kommt in ihm auch die Psychohygiene zur Sprache, beispielsweise der helfenden Menschen. Die Arbeit nach einem Suizid sei belastend, man gewöhne sich nicht daran und sie werde auch nicht leichter. Ein Suizid sei für alle Beteiligten ein »kritisches Ereignis« (S. 223). Dabei wird ein wahrhaft richtiger Satz formuliert: »Passen Sie auf sich auf. Sie können und sollen nicht versuchen, anderen zu helfen, wenn sie selbst in einem vulnerablen Zustand sind. Es ist nicht O.K., nicht O.K. zu sein.« (S. 224)
Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit sind Begriffe, die Walraven-Thissen im Buch immer wieder in den Fokus nimmt. So verschweigt sie nicht die Sonderfälle von Suiziden, räumt ihnen sogar ein eigenes Kapitel ein. Dabei schaut sie auf Suizide, die mit Mord kombiniert sind. Sie erinnert an autoerotische Unfälle. Und die Autorin thematisiert »Kinder und Suizide«. Dabei unterstreicht sie die Bedeutung von Kindern, wenn im Umfeld ein Suizid stattgefunden hat. Selbst sehr kleine Kinder wollten gesehen und gehört werden. Wenn sie in Rituale eingebunden würden und Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt würden, würde ihnen geholfen, mit der gegebenen Situation umzugehen.
Das Buch »Was tun nach einem Suizid?« ist vor allem für psychiatrische und psychotherapeutisch Tätige sowie sicher auch für Angehörige ein Gewinn. Es enttabuisiert, schiebt den Schleier hinweg, der oft über dem Erleben von Suiziden liegt. Unbedingt kann die Lektüre empfohlen werden.
Christoph Müller in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024