Alles, was mit Suizid zu tun hat, ist schwierig und angstbesetzt. Nicht nur im persönlichen Bereich, auch gesellschaftlich wurde diese Thematik lange totgeschwiegen. Mehr als 9.000 Suizidtote und vermutlich mehr als 100.000 Suizidversuche jedes Jahr in Deutschland sprechen jedoch dafür, dies zu ändern und näher hinzuschauen.
Diesen offenen Blick wagen in großer Weite und Differenziertheit die beiden in der Suizidforschung ausgewiesenen Experten Prof. Wolfersdorf und Univ.-Prof. Etzersdorfer. Ersterer als langjähriger ehemaliger Leiter des Referats Suizidologie der DGPPN und bekannt geworden als Gründer der ersten Depressionsstation an einem psychiatrischen Krankenhaus in Deutschland, Letzterer u.a. als stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS).
In dem jetzt in der zweiten Auflage erschienenen Buch werden nach einer geschichtlichen Einführung – lange Zeit wurde der Suizid ja kirchlichreligiös als sündhaftes Tun abgehandelt –, einer Begriffsbestimmung (Suizid als »gewaltsame Beendigung des eigenen Lebens«, S. 11) und ausführlichen Daten zur Epidemiologie die »Entwicklung von Suizidalität« und zugehörige »ätiopathogenetische Modelle« (Kap. 4, 5) in den Fokus genommen. Mehrere Erklärungs- und Verstehensmodelle von Suizidalität kommen zur Sprache, stets hinterlegt mit Tabellen und Abbildungen. Unter anderem das präsuizidale Syndrom nach Ringel (S. 76 ff.), aber auch Zeitabläufe suizidaler Handlungen und die Motivstruktur des Suizidalen mit dem Cluster »Flucht, Konfusion, Aggression, Entfremdung und Depression/Selbstwertstörung« (S. 79) werden hier behandelt.
In der Ätiopathogenese unterscheiden die Autoren zwischen »Krisenmodell« und »Krankheitsmodell«. Im Krisenmodell wird Krise psychosozial als »eine augenblicklich nicht lösbar erscheinende Situation, als Wendepunkt und Übergangszeit in der Lebensentwicklung« (S. 83) definiert, es werden verschiedene Phasen in Krisenablauf bzw. Krisenbewältigung dargestellt und mehrere Typen von Krisen (u.a. Lebensveränderungskrise, traumatische Krise) aufgezeigt. Auch psychodynamische Konzepte fließen zum Verständnis immer wieder ein. Wichtig auch, dass Krise stets »als Spannungsverhältnis zwischen äußerer und innerer Belastung« (S. 99) beschrieben wird.
Im »Krankheitsmodell« hingegen wird Suizidalität als psychopathologischer Ausdruck von seelischen Erkrankungen interpretiert. Insbesondere die Depressionen mit ihrer Lebenszeitmortalität von um vier Prozent rücken die Autoren in den Mittelpunkt. Aber auch das hohe Suizidrisiko bei schizophren erkrankten Menschen – beim sogenannten Kliniksuizid, dem Suizid innerhalb psychiatrischer Kliniken sogar an erster Stelle liegend! – und bei Menschen mit Opiatabhängigkeit wird angesprochen. Psychische Krankheiten gelten »als wichtigster Einzel-Risikofaktor für Suizid« (S. 105), dankenswerterweise machen die Autoren aber auch klar, dass Selbsttötung eine allgemein dem Menschen gegebene Möglichkeit ist und suizidale Handlungen als »grundsätzlich komplexe Verhaltensweisen […] nicht völlig verhütbar sind« (S. 224 f.).
Zentrales Anliegen des Buches ist eine bessere Suizidprävention, die nach drei einleitenden Abschnitten (Kap. 6–8) in fünf auf spezifische psychische Erkrankungen bezogenen Kapiteln (9–13) abgehandelt wird. Suizidprävention und Krisenintervention liegen hierbei eng beieinander, versuchen doch beide gefährdende versus schützende Faktoren zu erfassen und Strategien zu entwickeln, welche »die Bewältigung einer aktuell als belastend und die eigenen Ressourcen übersteigend erlebten Situation« (S. 111) ermöglichen. Einrichtungen der Suizidprävention wie aufsuchende mobile Dienste, die Telefonseelsorge und andere Anlaufstellen im Rahmen des psychosozialen Versorgungsnetzes kommen hier zur Sprache – gleichfalls das seit 2002 in Deutschland existierende Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro).
Thema sind natürlich auch die in der Krisenintervention tätigen Helfer, die bei suizidalen Krisen stark gefordert sind und selbst unter hohen emotionalen Druck geraten. Ihre Aufgabe sei es, »im Hier und Jetzt einer realen Beziehung als Person da zu sein« und »stellvertretende Hoffnung« zu geben (S. 142 f.). Denn im Kern gehe es um Beziehung, und schon Ringel schrieb: »Die Erfahrung lehrt, dass man Patienten, mit denen man wirklich Kontakt gewonnen hat, nicht verliert.« (S. 138)
Neben psychotherapeutischen und psychosozialen Interventionen, die beide Entwicklungen in eine (wieder) lebbare Zukunft eröffnen sollen, sprechen Wolfersdorf und Etzersdorfer auch die »Psychopharmakotherapie bei Suizidalität« (Kap. 15) an. Zwar richtig als zusätzliche Maßnahme innerhalb eines suizidpräventiven Gesamtkonzepts eingeordnet, verwundert es dann schon, dass Erfahrungen von Usern, die SSRIs als Suizidideen und -impulse produzierend erlebt haben, als »leidige Diskussion um ›suicide promotion‹ und ›new onset suicidality‹ unter Antidepressiva« (S. 165) abgetan werden. Bedauerlich bei einem ansonsten hochdifferenzierten Buch, das für die medizinische und psychosoziale Praxis mit Sicherheit extrem hilfreich ist.
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024