Der Journalist Christian Baron erzählt von seiner Kindheit, wie seine Familie unter der Gewalt des Vaters litt und welche Rolle die strukturelle Gewalt der Armut in diesem Arbeiterklassehaushalt der 1990er-Jahre in Kaiserslautern spielte. Dabei erklärt er seinem neuen linksliberalen Mittelklassemilieu auch die klassengeprägte Bedeutung von Fernsehen, Nintendo- Spielen, Pommesduft und körperlicher Kraft. Das Buch regt zur Perspektivübernahme an und führt Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen ihren Klassismus vor Augen.
Jedes Kapitel ist mit einem Gefühl überschrieben: Zorn, Glück, Schmerz, Überraschung, Scham, Stolz, Angst, Liebe, Hass, Hoffnung und Zweifel. Baron beginnt die Erzählung damit, dass sein älterer Bruder dem Vater am Sterbebett die Hand hält und übersetzt diese Geste mit den Worten: »Ich verstehe dich. Ich verzeihe dir. Ich hab dich lieb.« (S. 5) Diesen versöhnlichen Abschied hat er seinem Vater verweigert.
Trotzdem erinnert er sich auch an die schönen Momente seiner Kindheit. Beispielsweise als sein Vater bei der Arbeit als Möbelpacker einen Nintendo mitgehen lässt und sie die Nacht hindurch spielen, darauf wartend, dass die Mutter aus dem Krankenhaus zurückkehrt. Zu Hause läuft der Fernseher durchgehend, der sein Fenster zur Welt gewesen sei. Urlaub kann sich die Familie nicht leisten.
Die Nachbarn hören weg, wenn der Vater die Mutter verprügelt. Sein Bruder und er provozieren den Vater teilweise, um dessen Zorn auf sich selbst zu lenken. Einmal schleudert der Vater Baron gegen die Wand und beschimpft ihn. Nachdem er sich die Tränen abgewischt hat, beschließt er mit acht Jahren, sich zu wehren und begründet das so: »Ich wollte so sehr, dass er bleibt. Aber anders.« (S. 19) Dieser Widerspruch, dass Kinder ihre Eltern lieben wollen, egal was sie ihnen antun, macht die manchmal schwer erträgliche Spannung des Buches aus. Der ebenfalls gewalttätige Großvater und die ihn nicht auffangende Gesellschaft »entschuldigt nichts, aber erklärt alles« (ebd.), so die These des Buchs.
Barons Mutter schreibt Gedichte und obwohl sie eine sehr gute Schülerin war, wird sie regelmäßig von ihrem konservativen Lehrer gedemütigt. Nach einer Totgeburt fällt sie in eine erste Depression. Das Glück, so vermutet Baron, kommt mit der Geburt seines Bruders zurück. Kurz darauf wird sie erneut mit ihm schwanger. Die Träume der Eltern von einer Berufsausbildung und vom Umzug in eine größere Wohnung zerplatzen. Der Frust nimmt zu, der Vater flieht in die Kneipe. Ein Streit, weil er die Miete versoffen hat, eskaliert erstmals gewaltsam. Seine hochschwangere Mutter schmeißt den Mann raus, nimmt ihn aber nach einigen Tagen wieder auf.
Baron erinnert sich, wie er in der ersten Klasse lebensbedrohlich erkrankt und sein Vater ihm am Krankenhausbett als starker Retter erscheint. Es folgt eine Episode, in der die Familie buchstäblich hungert, weil der Vater bei einem Diebstahl erwischt und gekündigt wird. Die Eltern wollen nicht, dass ihr Elend nach außen dringt. Die Mutter hat den Satz eines Lehrers verinnerlicht: »Wer nicht arbeitet, solle nicht essen.« (S. 91) Und die Identität des Vaters basiert auf der rassistisch konnotierten Abgrenzung nach unten, niemals Sozialhilfe zu beantragen.
Im Kapitel zu »Scham« schildert er eine Szene mit dem betrunkenen Vater, der in einer Prügelei mit einem Nachbarn unterliegt. Die Polizei greift ein und misshandelt ihn vor den Augen aller Nachbarn. Zu Hause lässt der Vater dann seinen Frust an seiner Frau aus. Die Mutter verfällt danach erneut in eine schwere Depression. Nach ihrer Genesung tanzt die Mutter vor Freude mit ihrem Sohn, erkrankt aber bald darauf an Eierstockkrebs. Mithilfe ihrer Schwester setzt sie ihren Mann endgültig vor die Tür und lässt sich kurz vor ihrem Tod scheiden. Tante Juli verspricht, sich um die vier Kinder zu kümmern und erklärt: »Wir müssen jetzt alle Opfer bringen. Ich geb meinen Putzjob bei der Stadt auf. Und ihr gebt jetzt eben euren Vater auf.« (S. 191)
Im Kapitel »Hass« versammelt Baron verschiedene Szenen der Demütigung und Verachtung. Im Jugendamt wird er mit Tante Juli Zeuge, wie sie als »Sozialhilfe-Adel« (S. 15), die ihre Armut vererben, diffamiert werden. »Aus denen wird nie was« (S. 214), so die Einschätzung des zuständigen Sozialarbeiters, der ihn in der Folge nicht dabei unterstützt, entgegen der Empfehlung der Grundschule, ein Gymnasium zu finden.
Sein Opa und Onkel verteidigen am Stammtisch die Gewerkschaft, ohne die »wir heute noch sechzehn Stunden am Tag schuften und mit vierzig an der Plackerei krepieren [würden]« (S. 223). Die beiden wählen Sozialdemokraten, wohingegen Tante Juli und die Mutter zu den Grünen tendieren. Das war vor der rot-grünen Regierung und der Agenda 2010. Die Überlebenden seiner Familie seien ihren politischen Überzeugungen treu geblieben. »Sie kämen heute aber nicht mehr auf die Idee, die SPD oder die Grünen als Vertreter ihrer politischen Interessen zu begreifen.« (S. 225) Tante Ella, die älteste Schwester der Mutter, hatte sich eigentlich von der Familie abgewandt, weil sie sie »asozial fand« (S. 230). Aufgestiegen durch die Heirat mit einem Ingenieur fördert sie nach dem Tod der Mutter den Wunsch Barons, Journalist zu werden.
Acht Jahre nach dem Tod des Vaters sucht Baron erstmals dessen Grab und kann es nicht finden. Baron fragt, wie Édouard Louis »Wer oder was hat meinen Vater umgebracht? Sein Kummer? Seine Krankheit? Sein Körper? Seine Armut? Seine Klasse? Sein Sohn?« (S. 279). Die unmittelbare Antwort lautet wohl, dass er sich mit Alkohol und Drogen langsam selbst umgebracht hat. Aber was führte dazu? Die Sucht, die Persönlichkeit, die Traumatisierung durch den brutalen Vater? Die abwesende Mutter? Psychiatrische und psychologische Antworten, die nicht falsch sind, aber zu kurz greifen. Die Antwort des Buchs lautet: Die stumme Gewalt ökonomischer Verhältnisse, die Menschen arm und kaputt macht. Die Gewalt staatlicher Verhältnisse, die Menschen in Not als Schmarotzer demütigt. Die Gewalt in der Nachbarschaft, der Schule und im Verein, die Menschen aufgrund ihrer Armut ausschließt, auf Distanz hält und abwertet.
Alles keine Gründe, die den Vater freisprechen. Baron möchte den Vater verstehen, ihn lieb haben, ihm verzeihen. Aber gerade seine Unversöhnlichkeit und Abgrenzung gegenüber dem Vater war möglicherweise die Triebkraft, sich aus der strukturellen Gewalt seiner Klasse zu befreien.
Durch die Liebe zu seiner Familie verliert er nie die Verbindung zu seiner sozialen Herkunft. Das zeigt sich u. a. an seinem feinen Gespür für Klassismus und seiner Sympathie für die Arbeiter*innenklasse. So gelingt ihm das Kunststück, die klassenbedingte Gewalt und ihre Folgen zu schildern, ohne Vorurteile gegen die betroffenen Menschen zu reproduzieren. Mit dem Erzählen der eigenen Geschichte konfrontiert Baron die Leser*innen und sich selbst mit seiner traumatischen Kindheit. Das ist an einigen Stellen schwer auszuhalten, erinnert aber auch daran, dass Psychotherapie nicht der einzige Weg ist, Traumata zu verarbeiten.
Leonie Knebel in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024