Ich liege in der Badewanne, trinke meinen Lieblingskräutertee und blinzele in die Kerzen – fast ein wenig zu dunkel, um ein Buch zu lesen. Ich rücke die Kerzen hinter mir ein wenig näher und setze nochmal an. Jetzt geht’s. Und wie. Das Buch schmökert sich weg wie nichts. Eine Woche lang begleitet es mich jeden Abend vor dem Einschlafen. Manches lese ich zwei- oder dreimal. Die beiden Autorinnen bieten nicht nur einfach mehrere sehr gut sortierte und prall gefüllte Setzkästen von Tipps und Tricks für die Bereiche Alltag, Arbeit, Umgang mit Krisen, Umgang mit anderen und Umgang mit sich selbst. Das reicht ganz konkret von der Aufräumviertelstunde bis zu den Zuletzt-Fragen.
Es steckt ein mutmachendes Verständnis von Genesung in diesen Setzkästen, welches diesen Ratgeber überhaupt erst so richtig wertvoll macht. Es geht dabei um persönliches Wachstum, um Selbstvertrauen und Vertrauen in andere, um Anerkennung der eigenen Besonderheiten, Schwächen, Grenzen, Wünsche und Interessen und um eine gehörige Portion Selbstdisziplin. »Denken Sie langfristig!« rufen uns die Autorinnen zu. Recht haben sie, denke ich. Und frage mich: Geht das nicht besonders an uns Profis, die wir oft so ungeduldig und interventionistisch sind? Vielleicht. Ach nein, es ist ja ein Ratgeber für Psychiatrieerfahrene. Aber Moment, schon in der Einleitung beichten Bunt und Prins: »Die meisten Dinge, die uns geholfen haben, brauchen Zeit.« Das kenne ich, denn das geht mir als Nichtpsychiatrieerfahrenem ganz genauso. Und auch ihre Antwort auf die Sinnfrage kann ich jederzeit unterschreiben: »Sinn entwickelt sich aber auch, er kann nicht einmal erworben und dann für immer konserviert werden.«
Auch nach der dritten Lektüre bleibe ich dabei: Das ist ein Ratgeber an alle sich mit dem Thema Psychiatrie befassende Personen. Kleine Prise gefällig? »Weil ihnen immer wieder gesagt wird, sie seien nicht belastbar, verfallen manche Psychiatrie-Erfahrene auf die Strategie, Anstrengungen überhaupt zu meiden. Damit ›vermeiden‹ sie aber auch das Finden von Erfüllung, zum Beispiel der Erfüllung, die sie in Beziehungen finden könnten, und schränken ihren Lebensradius meist unnötig ein.« (S. 116)
Natürlich geht es hier nicht darum, die eigenen Grenzen ständig zu überschreiten. Aber Wachstum bedeutet auch, die eigenen Anspruchs- und Belastungsgrenzen angesichts eigener langfristiger Interessen immer mal wieder neu auszuloten. Manche Grenzen werden dabei enger, andere aber auch weiter werden. Oftmals ist es auch nur die Dosis (eines Miteinanders, einer Tätigkeit, eines Verhaltens), die das Gift macht. Genesungsprozesse sind eben eher mit persönlichem Wachstum als mit irgendwelchen biologischen Reparaturprozessen vergleichbar.
Sicher, der Ratgeber ist primär für Psychiatrieerfahrene gedacht. Und er geht dermaßen tief ins Detail, das klar ist: Dies können nur Psychiatrieerfahrene selbst wissen und glaubwürdig einander raten. Aber er zeigt mir als Profi dennoch, wie ich meine Patienten (noch) besser begleiten kann (vermutlich gilt dies auch aus Angehörigensicht). Und wenn ich Ihnen nun das Buch empfehle – was ich in der Tat mache: Selbstverständlich hat dieser kleine und übersichtliche Ratgeber auch mir geholfen, einige Kleinigkeiten in meinem Leben anders anzugehen. Aber das ist ja eigentlich klar, denn wieso sollten Tipps und Tricks des persönlichen Wachstums für Psychiatrieerfahrene grundsätzlich anders sein als für alle anderen Menschen?
Jann E. Schlimme in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024