Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Im Schatten der Mauer

Wie es ist, im Schatten einer Mauer aufzuwachsen, wisse er ganz genau, erklärt der Kabarettist Fatih Çevikkollu: Seine Mutter baute die Mauer ganz alleine, »eine architektonisch einwandfrei konstruierte Mauer aus Kartons, zwischen deren Ritzen nicht mal ein Blatt Papier passte« (S. 30). Sie stand im Schlafzimmer der Eltern und barg all die Dinge, die für die Rückkehr in die Türkei gesammelt wurden.

Diese Kartonwand verkörpert den Traum der Eltern, ein aufgeschobenes Leben, das nie gelebt wird. Als die Mutter in die Türkei zurückgeht, ohne Mann und ohne die inzwischen erwachsenen Kinder, lebt sie nur mit ihren Stimmen isoliert in ihrer Wohnung. Ihr Tod ist der Auslöser für Fatih Çevikkollu, einen Blick zurückzuwerfen und die Geschichte seiner Familie und die möglichen Auslöser der mütterlichen Psychose näher zu betrachten. Er spricht mit Freunden, Onkeln und Tanten – auch mit Ali Kemal Gün, einem bilingualen Psychotherapeuten und Integrationsbeauftragten des Landschaftsverbandes Rheinland – und schreibt seine Erfahrungen und Erkenntnisse auf.

Fatih Çevikkollu stellte bei seinen Recherchen schnell fest, dass weder die Kartonwand noch die psychische Erkrankung der Mutter kein Einzelfall war. Gerade die Mütter hatten oft nur wenige Kontakte und erlernten seltener als ihre Männer und Kinder die deutsche Sprache. Für sie war es am schwersten, den Traum von der Rückkehr ins Heimatland aufzugeben. Für ihre Kinder ist es eher die Frage der Zugehörigkeit, die sie beschäftigt. Einige von ihnen wurden vor der Einschulung in die Türkei geschickt, weil die Eltern ja nachkommen wollten – später wurden sie zurückgeholt. Dass manchen dieser sogenannten Kofferkinder die Erfahrungen einer sicheren Bindung fehlt, macht sie anfälliger für psychische Krisen.

Fatih Çevikkollu, selbst ein Kofferkind, sieht die Gründe für die verhältnismäßig häufigen psychischen Problemen in türkischen Familien in Deutschland aber nicht nur in der Migration und ihren Folgen begründet, sondern ebenso im Verhalten der deutschen Gesellschaft, die keine Gastfreundschaft zeigte, und der es nach den Anschlägen von Mölln und Solingen auch an Solidarität mangelte. »Das alles ergibt in Summe ein Bild, in dem zwei dysfunktionale Systeme nebeneinander existieren und sich gegenseitig befeuern. Meine türkische Familie und die deutsche Gesellschaft. Kurz gesagt haben beide am Plan der Rückkehr festgehalten, und beide haben nie, auch als es klar war, dass er nicht umgesetzt wird, ein neues Ziel formuliert.« (S. 201)

Es wird Zeit, dass beide Seiten sich darüber verständigen, was diese Lebenslüge von der Rückkehr mit ihnen gemacht hat. »Kartonwand« ist das erste Buch, in dem aus der Perspektive türkischer Familien von den Verletzungen und Wunden berichtet wird, die jedes Familienmitglied durch die Migration erfahren hat. Es sollte neben jedem Fachbuch zur kultursensiblen Psychiatrie im Regal stehen.

Karin Koch in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024