Mit diesem Buch über die Erfahrungen von Menschen, die Stimmen hören (können), ist dem Herausgeber Hartwig Hansen ein einzigartiger Beitrag zur Recovery-Literatur gelungen. Er lässt nämlich – in Deutschland bisher einmalig – achtzehn Stimmen hörende Frauen und Männer selbst zu Wort kommen. Deren authentische Berichte vermitteln nicht nur eindrücklich, wie vielfältig und facettenreich, sondern auch wie begeisternd und/oder quälend die Erfahrung des Stimmenhörens sein kann.
Das Phänomen des Stimmenhörens hat nicht nur in der Öffentlichkeit bisher einen sehr negativen Ruf. Auch die Psychiatrie ist traditionell nicht gerade dafür bekannt, dass sie etwas Positives zu dieser Erfahrung zu sagen hat. Dort werden Stimmen im Regelfall als ein nicht verstehbares Symptom einer psychischen Erkrankung, insbesondere der Schizophrenie, beschrieben, das mit Neuroleptika zu unterdrücken ist. Betroffenen wird in der Psychiatrie meist nicht wirklich zugehört, auch wenn wir als Fachleute meinen, dass wir es tun. Dass wir aber als Profis, Angehörige und Öffentlichkeit tatsächlich nicht richtig zuhören, das sagt uns nicht erst die internationale Stimmenhörbewegung der letzten drei Jahrzehnte.
Stimmenhören muss allerdings nicht nur Höllenqual sein, sondern kann auch inspirieren und als Gabe empfunden werden, wie im Beitrag von Wolfgang Harder deutlich wird. Monika Mikus beschreibt beispielhaft, wie es sich als bereichernde Möglichkeit spiritueller Erfahrungen erweisen kann. Bei manchen AutorInnen weisen die Stimmen auf die Notwendigkeit hin, besonders schwierige Lebenserfahrungen verarbeiten zu lernen.
Gerade mit Unterstützung der Selbsthilfeorganisation "Netzwerk Stimmenhören" hat sich für viele Stimmenhörende das konstruktive Verstehen des Stimmenhörens immer wieder als Quelle einer wirklichen und tiefgreifenden, positiven Veränderung erwiesen. Der Autor Elias beschreibt am Ende des Buches besonders eindrücklich, wie er mit Unterstützung einer Mitarbeiterin des Institutes Erfahrungsfokussierte Beratung (efc) einen neuen, konstruktiven Zugang zu seinen Stimmen fand, und wie die Stimmen selbst ihn darauf hinwiesen, dass er sich besser um sich selbst kümmern müsse.
Durch einfühlsame professionelle Begleitung sowie durch den Austausch in der Selbsthilfe gelingt es Stimmenhörenden, einen zumindest gangbareren, individuellen Weg zu finden, wie Christian Derflinger und Laura Vogt exemplarisch nachvollziehbar machen. Nach anfänglichem "Wegmachenwollen" werden die Stimmen zu Begleitern oder sogar Freunden, die nicht mehr gehen sollen und vermisst werden würden.
Einen guten Umgang mit dem Thema Stimmenhören zu finden, der nicht in krankhaftem oder negativem Denken stecken bleibt, ist nicht nur Aufgabe jeder/s einzelnen Betroffenen, sondern auch von uns allen. Auch dies macht das Buch sehr deutlich. Hier geht es um eine Rückbesinnung auf menschliche Qualitäten wie Achtung und Respekt, um Hoffnung und ein gutes Miteinander von Mensch zu Mensch. Dann können die gehörten Stimmen auch von Quälgeistern zu Lösungshinweis-Gebern werden.
Das Stimmenhören begreifbar zu machen, ist ein Ziel der erwähnten internationalen Stimmenhörbewegung, zu der auch das Netzwerk Stimmenhören und das efc-Institut gehören. Um diese Sichtweise wirbt der Herausgeber in einem einfühlsamen Vorwort und seiner Zusammenfassung unter dem Titel: "Stimmenhören als persönlicher Fingerabdruck".
Die Qualität der dazwischenliegenden Erfahrungsberichte und Recovery-Geschichten ermutigen zu einem entspannteren und zugewandteren Umgang mit den Menschen, die sich trauen, von ihren Stimmenerlebnissen zu berichten. Bei der spannenden Lektüre entwickelt sich ein Verständnis dafür, dass die Stimmenwelten voller, auch hilfreicher, Möglichkeiten sein können, die uns mit der bisher dominanten traditionellen Krankheitssicht und Stigmatisierung verwehrt bleiben würden.
Joachim Schnackenberg in Dr. med. Mabuse
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024