Nein, das ist kein psychiatrisches Fachbuch im engeren Sinn. Und nein, dieses Buch liefert – entgegen dem irritierenden Untertitel – auch keine allumfassende Erklärung zu den Ursachen von Depressionen. Aber ja: wenn man es mit anderen Büchern zur selben Thematik vergleicht, darf man das »wahr« – oder besser im englischen Original: »real«, also wirklich, tatsächlich, echt – in Verbindung mit dem anderen Wort »Ursachen« sehr wohl in den Mund nehmen. Denn endlich einmal traut sich ein Autor Front aufzubauen gegen die unwahre und rein biologische Erklärung von Depressionen, die alles im Gehirn zu verorten sucht, mit einem dort angeblich vorliegenden chemischen Ungleichgewicht (Serotonin-Hypothese).
Die Darlegungen des britischen Autors und Journalisten Johann Hari wirken umso glaubhafter, als er nicht nur eine stringente Argumentationslinie unter Hinzuziehung namhafter Experten verfolgt, sondern als selbst langjährig von Depressionen Betroffener seine eigene Lerngeschichte einbringt. Und die lautet: weg von der doppelt biologischen Geschichte, also der, dass »Depressionen eine Krankheit des Gehirns seien und SSRIs [Medikamente] sie heilen könnten« (S. 20), hin zu den Wurzeln der (allermeisten) Depressionen in unserer Kultur, sprich zu belastenden Lebenserfahrungen, schwierigen Lebensumständen, unserer westlichen Lebensweise insgesamt. Mithin also zu sozialen Ursachen!
Der Generalangriff auf das biomedizinische Modell, die ersten knapp hundert Seiten des Buches, kommt leichtfüßig daher: nicht mit Tabellen und Statistiken, sondern gleichsam als persönliche Erzählung an den Leser gerichtet. Und beginnend mit dem eigenen Verstricktsein ins System – Hari schluckte ein Jahrzehnt lang selbst Antidepressiva und glaubte fest an die von seinen Ärzten benannten Ursachen im Kopf, die »Fehlfunktion des Gehirns« (S. 30). Dies ist ja die heute etablierte und vorgeblich wissenschaftliche Theorie zur Depression! Und erst allmählich erkannte der Autor, dass mit dieser »Geschichte« etwas nicht stimmte. Selbst dann aber fiel es ihm schwer, sich von diesem orientierunggebenden Narrativ zu lösen. Letztlich jedoch gelang mithilfe von vielen Fachgesprächen und dem Rezipieren alternativer Studien eine ganz andere Erzählung, die er als gesellschaftliche Ursachen der Depression in Teil II seines Buches darlegt.
Sieben Bereiche zählt Hari hier auf und sieht ihr gemeinsames Element in einem Verlust der »Verbundenheit« – welch kreative Beobachtung in der anderswo immer gleichen und ermüdenden Geschichte zu den Gründen von Depression. Diese Lost Connections findet Hari u. a. in der heutigen Arbeitswelt und in den Beziehungen zu Mitmenschen, aber ebenso gegenüber der Natur und Werten. Auch durch den heute üblichen Verweis auf seine (angebliche) neuronale Fehlerhaftigkeit verlöre der depressive Mensch die Verbindung zu sich selbst. Die Alternative zu diesem Selbstmisstrauen ist ja, auf die inhärente Botschaft der Depression zu hören, die Symptome als Hinweis auf ein tieferliegendes Problem ernst zu nehmen und daraus Lösungswege zu entwickeln.
Die sieht der Autor vornehmlich in der Wiederherstellung von Verbundenheit und führt in Teil III auch sieben »Auswege« auf. In der singularisierten Welt von heute sind sie – wie z. B. die »Gemeinschaft mit anderen Menschen« (S. 276) – allesamt schwer realisierbar und, was den Einsatz psychedelischer Drogen betrifft, auch höchst kritisch zu bewerten. Von ihrer Zielrichtung her aber bleiben sie richtig. Denn wir brauchen für unsere Wege aus der Depression andere Menschen, können das alleine meist nicht schaffen! Doch »wenn Menschen einander wiederentdecken, sehen Probleme, die vorher unlösbar schienen, mit einem Mal lösbar aus« (ebd.). Auch wird deutlich, dass Depressionen »zu einem erheblichen Teil ein kollektives Problem darstellen« (S. 397), welches man nicht dem Einzelnen aufbürden sollte.
Freilich ist die allgemeine Erfahrung heute so, dass gesellschaftliche Faktoren, z. B. die umwälzenden Veränderungen auf unserem Arbeitsmarkt, fast völlig aus dem Blickwinkel einer medizinalisierten Depressionssicht geraten sind. Soziale Probleme werden individualisiert und Depressive vornehmlich unter Zugrundelegung der »Serotoninlegende« therapiert.
Wie fatal sich dies für den Einzelnen auswirken kann, zeigen die letzten zwölf Seiten dieses außergewöhnlichen Buches. Statt über die Behandlung wieder bei sich selbst anzukommen – »heimkommen« nennt es Hari –, erfährt der depressive Patient nach der falschen Erklärung zu seiner Erkrankung eine ebenso falsche Therapie (mit v.a. SSRIs). Die Möglichkeit, Depressionen auch als gesunde Reaktion zu verstehen, als plausible Nachwirkung von Schicksalsschlägen oder auch als Fehlentwicklung des Lebensweges, wird damit zugeschüttet. Und die echten Probleme allzu oft nicht mehr angegangen. In derSumme heißt das: Wir sehen die Depression falsch undbehandeln sie falsch! Und da das ein strukturelles Problem ist, muss man am Ende noch mal die von Hari konsultierten Experten zitieren: »Das ganze System ist krank« (S. 58) und macht daher »eine vollständige Überholung des Systems« (S. 75) notwendig. Gut, dass das einer mal so deutlich sagt.
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024