Vor mir liegt ein Buch mit einem ungewöhnlichen Format, irgendetwas zwischen Taschenbuch und Bildband. "Für wen ist dieses Buch gemacht?", frage ich mich beim ersten Blättern. Mit seiner schönen Aufmachung würde man dieses Buch in der Buchhandlung am ehesten im Regal mit den Geschenkbänden vermuten. Doch der Inhalt ist nicht leicht und unbeschwert.
Und trotzdem fordert die Aufmachung mich auf: Gib dieses Buch weiter! Mit diesen Gedanken fange ich an zu lesen, und ich lege das Buch fortan nur selten aus der Hand. 25 Menschen erzählen hier ihre persönliche Geschichte von seelischer Erschütterung, von tiefsten Krisen und davon, wie sie ihre Krisen – oft erst nach vielen, leidvollen Jahren – meistern, vielleicht immer noch straucheln, vielleicht immer noch zweifeln, doch immer Hoffnung in sich tragen. Jede dieser Geschichten ist einzigartig, und es wird schnell klar, es gibt nicht den einen Weg zu Recovery, genauso wenig, wie zwei Menschen mit der gleichen Diagnose dasselbe empfinden könnten.
Darin berührt das Buch in besonderer Weise: So unterschiedlich die einzelnen Geschichten auch sein mögen, sie haben doch gemeinsam, dass die Berichtenden nicht im Kreislauf von einer Krise zur nächsten stecken blieben, sondern dass sie irgendwann einen Punkt erreichten, von dem aus sich ihnen ein neuer Weg offenbarte. Manchmal waren es kleine Dinge, Worte, Gesten, sehr häufig waren es Beziehungen.
Auf diese Weise entstand wieder Hoffnung, genesen zu können von den erlebten Erschütterungen, den Psychosen, den Depressionen. Für alle war es ein langer Weg, für die meisten ist er nicht zu Ende. Einige stecken auch weiterhin in krisenhaften Situationen. Doch alle geben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sie genesen können, und berichten von den Erfahrungen, die ihre Hoffnung begründen. Darin erweist sich "Die Hoffnung trägt" geradezu als ein Lehrbuch für Professionelle, die hier aus erster Hand nachvollziehen können, was das Erleben in wahnhaften Zuständen bedeutet, dass dies Erleben nicht unbedingt zufällig geschieht, sondern oft – im Nachhinein – eingeordnet wird in die eigene Geschichte, die der Familie, der besonderen Umstände.
Dies macht einen wesentlichen Teil von Recovery aus, spürt man doch beim Lesen, dass das unbegreifliche Geschehen einen Sinn bekommt für die Betroffenen. Viele der Geschichten berühren mich dort, wo ich Parallelen im eigenen Leben erkenne. Ich, der vorgeblich Normale, ohne Psychiatrieerfahrung, aber doch mit Krisenerfahrung und mit Erlebnissen, die nur schwer einzuordnen waren. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich damals irgendeine Diagnose bekommen hätte, möglicherweise mit dem Hinweis, das sei unheilbar?
So trete ich in einen inneren Dialog mit jeder Autorin, jedem Autor, der durch die Bilder von Werner Krüper noch persönlicher wird. Es ist die Stärke dieses schönen Bandes, dass Bilder und Texte harmonieren. Am Beginn jeder Geschichte steht ein Bild desjenigen/derjenigen, der/die die Geschichte erzählt. Krüper ist es gelungen, das Erzählte durch seine Porträts zu untermalen, Erzählerinnen und Erzähler in einer sehr persönlichen Weise einzuführen. Und zwar auch dann, wenn diese unter Pseudonym scheiben und deswegen ihre Gesichter nicht abgebildet werden.
So darf ich 25 sehr persönlichen, geradezu intimen Momenten folgen, in denen alle Höhen und Tiefen menschlichen Daseins offenbar werden, die Schrecken des Psychiatriebetriebs und die Ignoranz seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenso wie das Gegenteil: Impulse, die eben jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzten und die schließlich auf den Weg zu Recovery führten. Über Freundschaften, die zerbrachen, und solche, die über alle Krisen hinwegtrugen. Über das selbstzerstörerische Wirken der Erschütterung und die heilsamen, oft sehr kleinen Schritte zur Selbstannahme.
Am Ende jeder Geschichte steht eine kurze Zusammenfassung dessen, was "bei meiner Recovery geholfen" hat, ein paar Spiegelstriche, die das für die Autorin, für den Autor Wesentliche des je eigenen Recoveryprozesses aufzählen.
Dies Buch macht Hoffnung, weil die Autorinnen und Autoren offen und schonungslos auch von den Tiefen berichten, von den Zeiten der Hoffnungslosigkeit. Dies Buch macht empathisch, weil die Geschichten die tiefe Menschlichkeit der Erzählerinnen und Erzähler aufzeigen – als Beispiel für die vielen noch nicht erzählten Geschichten, denen wir tagtäglich begegnen, als Professionelle, als Angehörige, als Betroffene, als Mitbürger.
Für wen also ist dies Buch geschrieben? Für jeden, der sich berühren lässt von den Geschichten, die das Leben schreibt. Für jede, die sich nicht hinter Diagnosen verschanzt, sondern im psychiatrieerfahrenen Gegenüber den Menschen, nicht die Krankheit, erkennt. Also für Sie, für mich, für den Chef, für die Kollegin, für den Freund … Ein wahres Geschenk, ein Schatzkästlein voller Kleinodien, die unser aller Beachtung verdienen.
Andreas Bethmann in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024