In der Einleitung findet sich der Hinweis auf das Vorgänger-Buch, herausgegeben von Heinz Deger-Erlenmeyer: "Wenn nichts mehr ist, wie es war". Das kommt mir doch bekannt vor! Siehe da, die Ausgabe von 1992 findet sich in meinem Regal. Nun liegen sie beide vor mir und lassen sich vergleichen. Optik und Haptik beweisen, dass sich auch das Verlagswesen weiterentwickelt hat.
Der neue Band aus der Reihe BALANCE Ratgeber mit den Mikado-Stäbchen auf dem Cover ist größer, schwerer und fabelhaft anzufassen. Keine Ahnung, wie man diese Papierqualität nennt, aber sie alleine schon macht das Durchblättern zum Vergnügen. Das Layout ist nutzerfreundlich und verleitet vermutlich auch die Internetgeneration zur Lektüre. Auch das beinahe antiquarische Büchlein von 1992 bestand bereits aus vielen kurzen und überschaubaren Sequenzen, Lektoren nennen das gerne etwas herablassend: "Häppchen". Ich liebe das.
Das Buch ist hervorragend gegliedert, Merksätze und Tipps sind markiert und fallen sofort ins Auge. Literaturempfehlungen ducken sich nicht an den Rand, sondern sind mutig formatiert. Angehörige, die sich vielleicht zum ersten Mal an die Lektüre eines Fachbuchs wagen, werden zunächst das Inhaltsverzeichnis konsultieren oder sich gleich beim Durchblättern festlesen.
Als ausgebildete und ausbildende Sozialarbeiterin bleibe ich gleich am Anfang hängen, beim Blick in den Spiegel. So also erleben die Angehörigen psychisch erkrankter Menschen die Profis, die Behörden, die Ärzte und Sozialarbeiterinnen? Ich zucke zusammen. Mir scheint, an der Grundhaltung der Profis und der erschreckenden Stigmatisierung der Angehörigen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel verändert.
So meint Jutta Seifert in ihrem Beitrag zum Thema Angehörigengruppe: "Die zermürbenden Krisen, die vermeintlich guten Ratschläge von Verwandten, Nachbarn, die Herablassung von Profis und Behörden, die Verdächtigungen und Zumutungen, denen wir ausgesetzt sind – all das kratzt an unserem Selbstwertgefühl und an unserer Würde."
Doch Angehörige vertreten inzwischen selbstbewusst ihre Interessen und informieren sich. Vor allem dabei hilft dieses Buch. Es bietet alle Basics rund um das Thema psychische Erkrankung, von ausgesuchten Autoren und auf einem erstaunlich hohen Niveau. Beispielhaft herausgegriffen sei hier der exzellente Beitrag von Klaus Obert und Imgard Plößl zum Versorgungssystem oder der Beitrag von Nils Greve zu den Psychopharmaka. Ein weiteres Highlight sind die Empfehlungen von Claudia Dahm-Mory "Wie sag ich’s bloß? Kommunikationstechniken im Umgang mit Betroffenen".
Fazit: Dieses Buch gehört nicht nur in die Hände der Rat suchenden Angehörigen, sondern auch der beratenden Zunft. Nicht nur ausleihen, sondern auch selber lesen!
Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024