Kinderfragen – Erwachsenenfragen. Warum war die Umwelt so blind? Hinter mühsam aufrechterhaltenen Fassaden bürgerlicher Ordnung oder hinter Punkoutfits offensichtlicher Rebellion wurde das Leid von Kindern, deren Eltern psychisch erkrankt waren, nicht gesehen – nicht in der Familie, nicht in der Schule, nicht bei den Ärzten, nicht in den Jugendämtern, nicht in der Gesellschaft.
Zehn aus dem Leben genommene Berichte erwachsener Töchter und Söhne: Greif- und fühlbar in ihrer inneren Not, im Gefühl des Im-Stich-Gelassen-Werdens, der Sprachlosigkeit, oft im Verlust der ganzen Kindheit, der auch zum Verlust von Gegenwart und Zukunft werden kann. Ein Leben lang machen diese Kinder Erfahrungen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depression, Schizophrenie, schizo-affektiven und anderen psychischen Störungen der Eltern – interessanterweise hauptsächlich der Mütter, wie auch die meisten Berichte von Töchtern stammen. Die Darstellungen sind nicht fachsprachlich verklausuliert, sondern für Betroffene wie auch für interessierte Laien und im sozialen Berufsfeld Tätige gut verständlich formuliert und weisen auf ein seelisches Leid hin, das durch seine Alltäglichkeit so besonders erschreckend wirkt.
Vor diesem Hintergrund berühren die Appelle sehr, die am Ende der meisten Berichte wie Phoenix aus der Asche steigen und mit denen die Autoren und Autorinnen betroffene Leser u. a. auffordern, Mut zu Selbsterkenntnis, zur Annahme von Therapiehilfen und zur Entwicklung ihres Selbstbewusstseins zu haben. Gleichzeitig zeigen sie die Hoffnung auf, dass man trotz aller traumatischen Erfahrungen das Schöne des Lebens nicht aus den Augen verlieren muss und sogar selbst zu Hilfestellungen für andere Betroffene fähig wird.
Diesen Ansatz unterstützen die engagierten Herausgeber, Johannes Jungbauer und Katharina Heitmann, mit einem umfangreichen Serviceteil, der weitere Literatur, Ratgeber, filmische Dokumentationen, aber auch hilfreiche Adressen und Weblinks bietet. In diesem Zusammenhang wäre für den nur mittelbar betroffenen aber interessierten Leser vielleicht noch ein Glossar hilfreich, in dem die medizinischen Begriffe der psychischen Erkrankungen kurz fachlich erläutert würden. Unabhängig davon leistet »Unsichtbare Narben« aber einen Beitrag dazu, Verletzungen, die zu diesen Narben führen, möglichst frühzeitig zu erkennen oder den unterschwelligen Narbenschmerz im Erwachsenenalter zu lindern.
Diese Berichte wollen ein »Eye-and-Ear-Opener« sein, möchten vor allem Betroffenen selbst helfen, zu erkennen, dass ihr Schicksal kein Einzelschicksal ist, ihnen Mut machen, ihre Scham und ihr Schweigen zu überwinden, und wollen sensibel machen für Verhaltensweisen im familiären, beruflichen, gesellschaftlichen Umfeld.
Sie sollten deshalb unbedingt in die Hände von Familienmitgliedern, aber auch von Lehrern, Sozialpädagogen, Ärzten, Mitarbeitern von Jugendämtern gelangen, um besonders die professionellen Helfer und Helferinnen aufzufordern, genauer hinzusehen, Missstände zu erkennen und entschieden anzugehen. Kein Kind sollte in seiner Kindheit Verletzungen erleiden, die »unsichtbare Narben« zurücklassen, welche ihm als Erwachsenen unter Umständen sogar den Mut nehmen, eigene Kinder zu haben.
Gabriele Beeck in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024