Ans Herz legen möchte ich das Buch auch deshalb, damit die Profis sehen, wie professionelles Handeln »von außen«, also aus Sicht der Angehörigen wirkt. Angehörige haben nicht immer recht. Aber sie haben oft gute Gründe. Selbst wenn es nicht meine sind.
Als psychiatrie-erfahrene Rezensentin dieses Buch zu besprechen, ist eine gewisse Herausforderung – ich muss dabei in mehrfacher Hinsicht über meinen Schatten springen: Über meinen Schatten als Psychiatrie-Erfahrene, über meine Rolle als Tochter (ohne eigene Kinder), über meine eigene Familiengeschichte. Ob das überhaupt geht? Und: Ob wohl andere Psychiatrie-Erfahrene dieses Angehörigenbuch lesen werden? Oder bleibt man von vornherein in getrennten Welten? Worum es geht in diesem Buch: Lilo Rombach beschreibt zunächst ihr eigenes Leben, ihre Berufstätigkeit, das Scheitern ihrer Ehe und die Jahre als alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter Julia, die mit 20 Jahren an Schizophrenie erkrankt. Es folgen die leidvollen Jahre mit Julias Erkrankung, bis kurz nach der Geburt von Julias Sohn Fabian. Der zu Pflegeeltern gegeben wird, weil Julia nicht in der Lage ist, ihn zu versorgen.
Dieser Bericht ist denn auch kein Selbstzweck, sondern für Fabian aufgeschrieben und an ihn adressiert: er soll, wenn er volljährig ist, seine Familiengeschichte kennenlernen, insbesondere die Geschichte seiner leiblichen Mutter Julia und seines Vaters, Julias Freund Louis. In den Aufzeichnungen gibt es zwei Zeitebenen: Die Geschichte bis kurz nach Fabians Geburt, und, als tagebuchartige Aufzeichnungen, die Ereignisse ca. zwei Jahre später, während Lilo Rombach ihre Erinnerungen aufschreibt. Durch Einrückungen und Datierungen lassen sich die Wechsel der Zeiten aber einigermaßen gut auseinanderhalten.
Etwas irritiert war ich anfangs durch die vielen längeren Zitate aus der Fachliteratur, insbesondere Asmus Finzens Buch "Schizophrenie – die Krankheit verstehen" wird immer wieder zitiert. Ich habe das dann aber so verstanden, dass diese Abschnitte der Autorin besonders wichtig waren, vielleicht für sie selbst, aber auch, um dem Enkel die Erkrankung seiner Mutter Julia und die zeitweise schwierigen Beziehungen innerhalb der Familie zu erklären.
Ausdrücke, die in diesem Buch häufig vorkommen, sind "Schmerz" und "es tut so weh". Damit sind in erster Linie seelische Schmerzen gemeint, die sich vor allem auf die Situation, das Verhalten und die Zukunftsaus-sichten der Tochter Julia beziehen – trotz der vielfältigen und wiederum bis über die eigene Schmerzgrenze gehenden Anstrengungen ihrer Mutter und Fabians Großmutter, sie zu unterstützen. Diese Schmerzen werden für den Leser gut nachfühlbar gemacht. Körperliche Schmerzen, etwa von Bandscheibenvorfällen, kommen in dem Bericht noch hinzu.
Allerdings bekam ich manchmal auch "Bauchschmerzen" einer Art, die die Autorin wohl nicht vorgesehen hat – ich war nicht mit allem einverstanden, was die Mutter tut, um ihrer Tochter zu helfen. Noch damit, wie sie manches beurteilt. Dies ist eben keine "wasserdichte", perfekte Geschichte, die Autorin macht sich angreifbar – und gerade das macht das Buch so authentisch, so menschlich anrührend und aufwühlend.
Lilo Rombach leidet besonders unter der Einsamkeit, in der ihre Tochter lebt – als Leser entgeht einem aber nicht, dass diese Mutter/Großmutter selbst sehr alleingelassen ist: die professionelle "Hilfe" baut eher neue Hindernisse auf, dort ist, wie Lilo Rombach zu Recht bemerkt, niemand wirklich und nachhaltig an Julias Schicksal interessiert. Aber auch sonst ist da wenig die Rede von hilfreichem Beistand für sie – auf Seite 114 spricht sie es dann aus: "Ich fühle mich furchtbar allein."
Eine Stärke dieses Buches ist , dass es auf ausführlichen Alltagsnotizen beruht – und so kommen die ganzen Widrigkeiten, die einem die tägliche Arbeit schwer machen, in den Blick: zahllose Autofahrten, verpatzte Treffen, fehlendes Geld, nicht erreichbare Behörden/Betreuerinnen, unrenovierte Wohnungen, steile Treppen in den 4. Stock oder eine nicht angeschlossene Waschmaschine. Wer sich (als Profi) "Lebensweltorientierung" auf die Fahnen geschrieben hat, tut gut daran, hier genau hinzusehen!
Überhaupt – wer wird dieses Buch lesen? Psychiatrie-Erfahrene, so schätze ich, eher weniger. Angehörige hoffentlich, die sich vielleicht darin wiederfinden und sich dann möglicherweise nicht mehr so allein mit ihrer Situation und ihren Gefühlen fühlen. Vor allem möchte ich es psychiatrischen Profis, insbesondere den jüngeren, ans Herz legen. Während einige Einrichtungen jetzt (ganz neu!) die "familienorientierte Behandlung" entdecken, musste ich mir von anderer Seite schon anhören, Angehörigenarbeit sei "ein Auslaufmodell".
In diesem Buch wird die Situation und Gefühlslage einer Mutter unabweisbar dargestellt – und es wird auch deutlich, dass Angehörige nicht irgendwelche plakativen Pappfiguren sind, sondern auch ihre Biografie, ihre Geschichte, Prägungen haben. Ans Herz legen auch deshalb, damit die Profis sehen, wie professionelles Handeln »von außen«, also aus Sicht der Angehörigen wirkt. Angehörige haben nicht immer recht. Aber sie haben oft gute Gründe. Selbst wenn es nicht meine sind.
Sibylle Prins in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024