»Du drehst Dich – Runde um Runde, Du drehst Dich – und alles steht still.« Die Geschichte der Familie Samstag um die psychotische Erkrankung des Sohnes und Bruders berührt. Eingangs fragt sich der Leser: »Was ist da los?« Außer der Einleitung keine Erklärung, nur Momentaufnahmen, Schlaglichter. Die kafkaesken, fragmentiert wirkenden Beschreibungen fokussieren auf das Erleben der Mutter und der Schwester. Ätiologie, Diagnose, Verlauf, Prognose? Einfach nur Erleben. Die einzelnen Momentaufnahmen wirken isoliert. Fehlt da nicht ein roter Faden in den dichten Beschreibungen?
Doch der Stil entspricht der Realität. Das wirkliche Leben steckt nicht nur voller Überraschungen und Wendungen – es kann Menschen in ihren Grundfesten erschüttern. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Hier setzt die Erzählung an. Schonungslos. Unfassbar. Und schwer auszuhalten.
Aaron Antonovsky beschrieb mit dem Kohärenzempfinden Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit als zentrale Faktoren der Lebensorientierung. Was passiert mit der eigenen Position in der Welt, wenn diese erschüttert werden? Die Erzählung beschreibt eindrücklich die verschiedenen Phasen im Umgang mit der verstörenden psychotischen Erkrankung. Erklärungen werden gesucht für das Verhalten des Sohnes, Bruders, auch Hilfestellungen, um die eigenen Reaktionen, Hintergründe, Zusammenhänge zu verstehen. Es ist der Versuch, in den Unberechenbarkeiten einen Umgang, eine Handhabe zu finden. Es ist die Such nach Bedeutung und Sinn, auch nach Schuld.
Kerstin Samstag umschreibt ohne Verhüllung, ohne Beschönigung. Selbstkritisch und sehn-süchtig zugleich. Sie stellt sich die Frage, welche sich wohl die meisten Mütter stellen, wenn das eigene Kind erkrankt: Was habe ich falsch gemacht? Eine Gratwanderung zwischen An-klage und Selbstanklage, den Druck der Erschütterungen im Genick.
Im Blick der Mutter ist oft nur Platz für einen. Friederike, die Schwester, beschreibt ihr Gefühl, dass sie und ihre Mutter ähnlich wie Planeten die Sonne den Bruder umkreisen. So durchdringt die Erkrankung alle Sorgen, Ängste, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Grenzen der Familie – ihr ganzes Leben. Friederikes eigenes Sein wird hinten angestellt, kein Platz für Ärger, Streit, Abstand. Und dennoch die Verbundenheit. Erschreckend ehrlich formuliert sie ihr Erleben, auch die Erschütterungen in der Beziehung zur Mutter.
Ein Prozess der Suche und Veränderung wird sichtbar. Zunehmend gelingt es beiden, bei sich zu bleiben, das eigene Tun, Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Kein Happy End, doch eine versöhnliche Wendung. Die erfolgreiche Suche nach dem eigenen Ort rundet die Geschichte ab – und fordert auf, mit diesem Blick nochmals mit der Lektüre zu beginnen. Erst jetzt kann die uferlose Dimension des Erlebens und der Folgen der Erschütterung wenigstens im Ansatz verstanden werden.
Für Profis interessant ist natürlich auch das Erleben der Helfer: »Die Profis versuchen durch standardisierte Behandlungsmethoden Kontrolle und damit Macht im Sinne von Einfluss zu behalten. Ob sie meinen Sohn nur deshalb gefesselt haben, um ihn zu zwingen, Medikamente zu nehmen, ob aus Kälte oder verstecktem Sadismus, werde ich nie wissen.« Was läuft hier schief? Psychiatrisch Tätige sind gefordert, Angehörige wo immer möglich in die Behandlung mit einzubeziehen, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Beim Kontrollverlust durch einen Schicksalsschlag versagen die vertrauten Überzeugungen; die Folgen sind ein Verlust des eigenen Selbstverständnisses und das Gefühl, den Boden unter den eigenen Füßen zu verlie-ren. Fachpersonen sind gefordert, diese Prozesse zu erkennen und hilfreich zu begleiten.
Letztlich beschreiben Kerstin und Friederike Samstag genau diese fehlende Begleitung und Unterstützung. Deshalb ist dieser Erfahrungsbericht nicht nur Angehörigen von Menschen mit einer psychischen Erkrankung zu empfehlen. Er ist auch für psychiatrisch Tätige eine Aufforderung, endlich die familiären Dimensionen einer langjährigen psychischen Erkrankung zu erkennen und in die Hilfen zu integrieren.
Thomas Lampert in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024