Angehörige in der Psychiatrie sind omnipräsent. Sie klingeln spontan an der Stationstür, rufen an oder wir Fachleute kontaktieren sie, um von ihnen anamnestische Infos über ihre Angehörigen zu erhalten.
Ein Buch wie dieses aus der Reihe Basiswissen war längst überfällig. Auch wenn Angehörige in der psychiatrischen Arbeit zunehmend mehr berücksichtigt werden, erlebe ich diesbezüglich – nicht nur in meiner alltäglichen Arbeit als Sozialarbeiterin in der psychiatrischen Klinik – nach wie vor große Defizite. Fehlende qualitative Standards sorgen für viele Unsicherheiten. Die psychische Erkrankung ihres Familienmitglieds oder einer vertrauten Person ist für die meisten Angehörigen ein biografisch einschneidendes Erlebnis, verbunden mit dem Verlust ihrer Alltäglichkeit. Im Laufe der Erkrankung sammeln sie zahlreiche Erfahrungen. Diese führen zu hohen objektiven und subjektiven Belastungen, welche es im psychiatrischen Setting unbedingt zu berücksichtigen gilt.
Scherer und Lampert beschreiben ausführlich die Situation von Angehörigen am Beispiel vielfältiger Belastungen wie z.B. Schuld- und Schamgefühle, Angst, und der andauernde Zwiespalt zwischen Autonomie und Fürsorge. Ebenso stellen sie Bewältigungsstrategien der Angehörigen während verschiedener Phasen der Erkrankung dar. So ist der Verlauf der Erkrankung für Angehörige mit einem langen Prozess verbunden, der jedoch dazu beitragen kann, eine neue Balance zu finden.
Die Autoren geben klare Handlungsempfehlungen, wie wir Angehörige dabei unterstützen können. Hierfür benötigen Angehörige z.B. stets den professionellen Zuspruch, ein eigenes Leben führen zu dürfen. Besonders hervorgehoben wird, dass Angehörige auch Experten bezüglich der Erkrankung ihres Familienmitglieds und eine Ressource für das gesamte psychiatrische System sind. Eine aktive Einbindung entlastet meistens alle Beteiligten und fördert zudem die Selbstbefähigung von Angehörigen. Fazit: »Jede Anstrengung, Angehörige respektvoll in die Hilfe einzubeziehen, ist begrüßenswert.« (S. 55)
Das Buch legt dar, dass eine allgemeine Berücksichtigung Angehöriger nicht ausreicht. Vielmehr muss es um den konkreten Einbezug Angehöriger gehen. Neben praxisbewährten Leitlinien befinden sich in dem Buch auch systemische Grundlagen. Das individuelle System von Betroffenen muss in die professionelle Wahrnehmung und unbedingt in die Behandlung mit einbezogen werden. Hilfen für Menschen mit psychischen Erkrankungen dürfen sich nicht nur auf die Beseitigung von Symptomen konzentrieren, sondern das gesunde Leben fördern. Professionell Helfende müssen also stets das Lebensumfeld, d.h. neben jeweiligen Lebenskonzepten von Betroffenen auch deren soziale Ressourcen, miteinbeziehen. Der Einbezug von Angehörigen ist demzufolge unabdingbar.
In einem separaten Kapitel widmen sich die Autoren außerdem dem sensiblen Thema »Kinder als Angehörige«. Deutlich wird, dass uns die konkrete Arbeit mit Angehörigen einiges abfordert. Genau deshalb spreche ich jedem, der Angehörigen im psychiatrischen Kontext begegnet, eine klare Leseempfehlung aus. Besonders erwähnenswert sind außerdem die zahlreichen dargestellten Gesprächssequenzen zwischen Angehörigen, Betroffenen sowie Therapeuten bezüglich verschiedener Herausforderungen in der psychiatrischen Arbeit. Auch, wenn viele Beispiele in diesem Buch eine Klinikperspektive beschreiben, lassen sich die ausführlich beschriebenen spezifischen Belastungen von Angehörigen sowie unsere Haltung ihnen gegenüber auf sämtliche Begegnungen mit Angehörigen übertragen.
Das Buch ruft zu einem Perspektivwechsel auf, sich in die Lage von Angehörigen hineinzuversetzen. Es präsentiert neue Standards, beispielsweise im Umgang mit »schwierigen« Angehörigen, die es, wenn wir unsere Haltung verändern, eigentlich gar nicht gibt. Zudem gibt es psychiatrisch Tätigen einen fachlichen Überblick, lädt aber gleichzeitig zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Thema Angehörige in der Psychiatrie ein.
Kathrin Geweke in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024