"Wie ein Alien" sei ihr die Mutter vorgekommen, schreibt eine inzwischen erwachsene Tochter über ihr Empfinden in der Kindheit, die überschattet war von der Psychose der Mutter. Jedes Mal, wenn die Mutter diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck bekam, der ihr Abdriften in die paranoide Welt ankündigte, musste die Tochter mit aller Kraft dagegen ankämpfen, mit in die kalten Räume gezogen zu werden. "Ich will nichts davon. Nichts!"
Wenn Eltern psychisch krank werden, kommt das nicht selten einer Zerreißprobe für die ganze Familie gleich. In dem Buch der Psychologin Gyöngyvér Sielaff legen Töchter, Mütter, ein Sohn und ein Vater ein bewegendes Zeugnis davon ab. Der Angst, Wut und Sehnsucht, dem Mitleid und Befremden der einstigen Kinder stehen vor allem Hilflosigkeit und Schuldgefühle der Mütter gegenüber: "Meine Hülle sorgte für die Hülle meines Sohnes." Und Scham, auf beiden Seiten.
Denn psychische Krankheit konfrontiert alle Familienmitglieder mit ihrer Ohnmacht, und meistens leidet jeder für sich alleine. Dafür sorgt schon das Stigma, das ihr immer noch anhaftet. Umso wichtiger war es Gyöngyvér Sielaff, ihr Buch als Medium der Begegnung anzulegen.
Erkrankte oder einst kranke Eltern erfahren dort, worunter Kinder besonders leiden, aber auch, was ihnen Wege der Bewältigung und des Wachstums aus der Katastrophe zu bahnen vermag. Und die einstigen Kinder können ein Verständnis dafür gewinnen, wie verzweifelt Eltern meist darum ringen, ihren Söhnen und Töchtern trotz der Krankheit Liebe und Fürsorge angedeihen zu lassen. Dieses Trotzdem und Gerade-Deswegen ist eine der Stärken des Buches und derer, die darin erzählen. In all dem Schmerz und Elend blitzen immer wieder kostbare gelungene Momente, Kraft, Selbsterkenntnis und Liebe auf – wie Trittsteine im wilden Wasser, Ressourcen, die manches möglich machen: selbst in großer Not ein Stück Normalität zu retten etwa, weiter zu leben und sogar zu reifen.
Dass Kinder und Eltern dabei Unterstützung brauchen, Psychiatrie und Jugendhilfe diese aber noch nicht in der nötigen Qualität und Quantität leisten, daran lässt die Psychologin keinen Zweifel. Hat sie doch selbst aus der Not unzureichender und fehlender Hilfen heraus wegweisende Beratung und Gruppenangebote für betroffene Familien, Mütter und Kinder ins Leben gerufen, die neben einfühlsamer fachlicher Zuwendung einen Raum für geschwisterliche Solidarität bieten. Nicht zuletzt der Austausch mit anderen Betroffenen und das Angenommenwerden mit der eigenen Geschichte ermöglicht es, den Teufelskreis aus Schweigen, Isolation und Selbstentwertung hinter sich zu lassen und in etwas einzutreten, das Gyöngyvér Sielaff "Engelskreis" nennt: die Erfahrung, über Verstörendes und Beschämendes sprechen zu können und durch Erklärung, Verständnis und Beistand entlastet und gestärkt zu werden.
Zu einer solchen, die ganze Familie in den Blick nehmenden Hilfe, die erst noch flächendeckend zu schaffen ist, sollten auch krisenerfahrene Mütter (und Väter) mit EX-IN-Schulung beitragen können, wünscht sich die Psychologin: als "Mitmütter", engagiert und bezahlt von Jugendämtern, Erziehungsberatungsstellen, Kinderärzten, Anbietern integrierter Versorgung und anderen. Solche "Mitmütter" würden Betroffenen Zuversicht vermitteln, Profis ermuntern, die Erfahrung eigener Lebenskrisen einzubringen und auch selbst mit ihren Familien profitieren.
So freut sich eine EX-IN-Absolventin, die bereits von verschiedenen Gruppen angefragt wurde: »Gleichzeitig erlebe ich es als eine große Erweiterung, dass meine eigene Krankheit und mein Umgang mit ihr für andere hilfreich sein könnte. Hier tut sich eine Tür auf und meine Kinder haben dies ebenfalls sehr genau wahrgenommen.«
Cornelia Schäfer in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024