Mit dem Urteil vom 26. Februar 2020 des Deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVGH), das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung im Sinne des § 217 SGB sei verfassungswidrig und widerspreche dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG), fand eine Zäsur in Deutschland statt. Der selbst herbeigeführte Tod schließt jetzt die straffreie, freiwillige und legale Hilfe Dritter ein. Dies sei auch mit der UN-Menschenrechtskonvention vereinbar, so der BVGH.
Im Januar 2021 erschien das hier zu rezensierende Fachbuch, welches den Untertitel trägt: »Herausforderung für die Psychiatrie und Psychotherapie«, im Hogrefe Verlag. Prof. Paul Hoff, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, formuliert im Vorwort, dass es bei dieser Debatte mit Blick auf die die formalen Aspekte keinen Raum geben dürfe für »dogmatische Rigidität« und »unangemessene Vereinfachung«, »körperliche und psychische Erkrankungen müssen im Grundsatz gleichgestellt werden«, aber auch, dass wir eine »Debattenkultur« bräuchten, die das Gespräch im »Dissensfall« ermögliche.
Und, so Hoff abschließend, dieses Buch beschreite diesen Weg und zeige Respekt vor dem Thema. Herausgeber und Theologe André Böhning bat hierfür neun Autorinnen und Autoren aus Psychiatrie und Psychotherapie, Soziologie, Pädiatrie, Palliativmedizin, Theologie und Recht um ihre Beiträge. Schweizer und Deutsche, aber keine Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen.
Die neun Kapitel beginnen mit der Darstellung der ethischen Herausforderung bei einem polarisierenden Thema. Sie thematisieren sodann die Auseinandersetzung mit unerträglichem Leiden, die juristischen Rahmenbedingungen nach dem Karlsruher Urteil und kommen über die Diskussion ethisch-religiöser Argumente zur zentralen Frage der Urteilsfähigkeit bei psychischer Erkrankung. Abschließend werden noch einmal vertiefend die strafrechtlichen Konsequenzen in Deutschland beleuchtet.
Ein Buch, das in der Tat sehr sorgfältig gelesen werden muss. Welches nicht nur »keine unangemessene Vereinfachung erlaubt«, sondern zahlreiche Fragen stellt, die verstörend wirken: Ob denn Suizidhilfe sich mit den Zielen der Medizin vereinbaren lasse, ob denn das Verwehren des Wunsches auf Sterbehilfe eine Diskriminierung psychisch kranker Menschen durch die Sozialpsychiatrie darstelle, ob denn der Einfluss von Einsamkeit, sozialer Isolation, fehlendem Helfernetz, dem Gefühl, zur Last zu fallen, die Entscheidung erheblich beeinflussen.
Im Buch finden sich zahlreiche kritische Passagen, in denen z. B. darauf hingewiesen wird, dass es neben der assistierten legalen Sterbehilfe auch zu einer Zunahme der aktiven, illegalen Sterbehilfe in der Schweiz kam, ebenso zu Todesfällen im Rahmen der Sterbehilfe ohne Verlangen des Patienten bei unbekannter Dunkelziffer. Auch die Situation der Angehörigen wird wiederholt thematisiert.
Was gibt es zu bemängeln? Bei dieser Thematik hätten auch die psychiatrischen Standesorganisationen und Fachverbände mitschreiben können, denn das Karlsruher Urteil stellt auch sie vor neue Herausforderungen. Die DGSP, die DGPPN und viele andere haben sich immer wieder sehr klar gegen die Sterbehilfe ausgesprochen, da nicht mit dem ärztlichen und ethischen Selbstverständnis vereinbar.
So ergeben sich z. B. neue Herausforderungen, wenn Sterbehilfevereine mit Hinweis auf das Karlsruher Urteil Einlass in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen sowie bei Trägern der Gemeindepsychiatrie verlangen. Und wenn man schon in dem Recht auf assistierte Sterbehilfe für psychisch erkrankte Menschen einen Akt der Inklusion sehen will, dann wäre dieser erst recht bei der Autorenschaft angezeigt. Hier vermisse ich Beiträge der psychiatrischen Selbsthilfe und ihrer Angehörigen.
Auch die Kirchen aller Konfessionen und Islamgläubigen sowie Wohlfahrtsverbände in Deutschland und in der Schweiz hätten sehr viel deutlicher zu Wort kommen müssen. Sie haben längst auf das Karlsruher Urteil reagiert und sich neu positioniert.
Im Sachwortverzeichnis habe ich dann auch bestimmte Begriffe wie »geschäftsmäßig«, »rechtliche Betreuung«, »Selbsthilfe der Psychiatrieerfahrenen« (ausführlich aber Selbstbestimmung) vermisst. Dennoch: Ein Thema und ein Buch, mit dessen Herausforderungen man sich auseinandersetzen muss.
Christian Zechert in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024