Dem Unsagbaren eine Stimme
An manchen Tagen vermitteln die Medien den Eindruck, die Covid-Pandemie sei das einzige Problem unserer Zeit. Dankenswerterweise erinnerte kürzlich die »Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres« an das Schicksal von 88 Millionen geflüchteten Menschen weltweit – und an unsere blinden Flecken. »Pushback« ist das Unwort 2021, es steht für menschenverachtende und grundrechtswidrige Zurückweisung verzweifelter Menschen an Europas Außengrenzen.
Das zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete ist in letzter Zeit zurückgegangen. Die Welle der Hilfsbereitschaft von 2015 konnte nicht überall in einen kraftvollen Dauerlauf überführt werden. Umso wichtiger sind Hoffnung gebende Ausnahmen, zu denen die Sozialpsychiatrische Migrationsambulanz im bayerischen Veitshöchheim gehört.
Gründer dieser Ambulanz ist Dr. Martin Flesch, Facharzt für Psychiatrie und hauptberuflich forensischer Gutachter in freier Praxis. Ende 2014 hatte er mit ehrenamtlichen psychiatrischen Sprechstunden im örtlichen Flüchtlingsheim begonnen. Daraus entwickelte sich das Behandlungsangebot, das bisher rund 500 Patientinnen und Patienten aus 30 Ländern zugutegekommen ist.
Jede Fluchtbewegung eines Menschen hat Ursachen; Flüchtende sind unterwegs häufig schutz- und wehrlos widrigsten Bedingungen ausgesetzt. Traumatisierungen werden gesetzt, die erhebliches seelisches Leid erzeugen. Nach außen sichtbar werden nicht selten Süchte und Verhaltensstörungen bis hin zur Delinquenz. An sieben Einzelschicksalen zeichnet Flesch nach, welch grauenvolle Zumutungen diese Menschen erdulden mussten. Er schildert behutsam, aber eindringlich innerpsychische, innerfamiliäre Konflikte.
Auf jede Kasuistik folgt eine »Plattform« genannte Betrachtung zu ausgewählten Phänomenen des Themenfeldes. Es geht beispielsweise um den vielschichtigen Trauma-Begriff, um das Elendslager »Vorhölle Moria«, oder aber um Anforderungen an psychiatrische Gutachten im Asylverfahren. Ein dritter Strang sind »Intermezzi«, mit denen Flesch Bögen schlägt zu religiösen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Aspekten; mal ist es ein kurzes Gedicht, mal die Würdigung eines Humanisten wie Albert Schweitzer oder einer mutigen Frau wie Mutter Teresa.
Martin Flesch muss nicht stilistisch dramatisieren, um mit den Beispielen aus seiner Praxis das zigtausendfache Drama sichtbar zu machen. Er bleibt sprachlich unaufgeregt und erleichtert uns dadurch die Lektüre. Dennoch spürt man sein dringendes Verlangen, im Dienst der Opfer das Helfen zu befördern. Den Lesenden, die sich berühren lassen, bleibt das Unbehagen nicht erspart – tun wir wirklich genug, um das Ertrinken im Mittelmeer, das Erfrieren in Belarus, die Versklavung in Libyen zu stoppen? Flesch macht niemandem einen individuellen Vorwurf. Aber er würdigt einige Leuchtturm-Projekte und weist unaufdringlich auf das hin, was jede und jeder tun kann: »Ärzte ohne Grenzen« unterstützen, Petitionen auf den Weg bringen und unterschreiben, »Sichere Häfen« fordern und fördern … Nicht zuletzt geht er auch mit seinem Buch beispielhaft voran: Verkaufserlöse werden der Flüchtlingshilfe gespendet – ein weiteres Kaufargument hinter den bedenkenswerten Inhalten.
Martin Osinski in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024