Der Titel »Humane Psychiatrie« macht stutzig und neugierig zugleich. Wie anders als »human« sollte Psychiatrie sein, will sie Menschen in Krisen hilfreich begleiten? Zugleich wissen wir, dass der Anspruch einer »humanen Psychiatrie« und die Wirklichkeit der psychosozialen Versorgung nur zu häufig dramatisch voneinander abweichen. Brüche zwischen humaner und realer Psychiatrie passieren Tag für Tag, trotz zahlloser Reformen, Gesetzesinitiativen, Behandlungsleitlinien, Schulungen oder Antistigmakampagnen. Wollen wir diese Abweichungen erkennbar machen, benötigen wir innovative Ideen, Begriffe, Konzepte und Grundhaltungen, die stark genug sind, uns ethisch zu leiten. Die, wenn möglich, auch wissenschaftlich fundiert sind und zugleich unser Denken und Handeln durchaus normativ beeinflussen dürfen.
An diesem Punkt setzt der Autor an, wenn er uns unter der Überschrift »Humane Psychiatrie« weit über einhundert höchst aktuelle Begriffe vorstellt, die in den aktuellen psychiatrischen Szenarien eine wichtige Rolle spielen. Von »Achtsamkeit«, »Adhärenz«, »Inklusion« über »Besuchskommissionen«, »Milieugestaltung«, »Resilienz«, »Spiritualität«, »Skills statt Medikamente« bis hin zu »Zeit« und »Zwang vermeiden«. Aber auch Begriffe wie »Humor«, »Stationszimmer abschaffen« oder »Gemeinsame Sprache finden« lassen sich nachlesen. Das Buch entwickelt durch die jeweils ein bis zwei Seiten umfassende, sehr präzise und fokussierte Darstellung einen ungeahnten Informationswert. Es bündelt all die Begriffe und Werte, für die zahlreiche engagierte Menschen stehen, seien es die Psychiatrieerfahrenen, die Angehörigen oder die beruflich Tätigen. Heraus kommt ein Kompendium der »Humanen Psychiatrie«, welches übrigens weitgehend deckungsgleich mit der Sozialen Psychiatrie zu sehen ist.
Als Rezensent hat mir das Lesen und Sich-Vertiefen ungemein Spaß gemacht. Wer glaubt, hier liege ein langweiliges Wörterbuch zur Reformbewegung der Psychiatrie vor, der irrt. Die Texte sind klug, sprachlich frisch und immer informativ verfasst. Stets finden sich Passagen, die auch gestandenen Experten ein »Aha« entlocken; gelegentlich auch ein »da gibt’s noch mehr«. So wundert es nicht, wenn gleich zwei ausgewiesene Repräsentanten der humanen-anthropologischen Psychiatrie, Thomas Bock und Andreas Heinz, jeweils ein Geleitwort vorangestellt haben. Abgerundet wird das Buch durch ein trialogisches Nachwort von Irmela Boden, Annette Kleeberg und Hilde Schädle-Deininger. Ein Sachregister und ein sorgfältiges Literaturverzeichnis laden zur Vertiefung ein.
Rundherum ein gelungenes Buch, dem man seinen ideellen, für die Grundhaltung durchaus praktischen Wert zuerst nicht ansieht. Hat man sich einmal hineingelesen, möchte man es nicht mehr missen.
Christian Zechert in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 03.02.2020