Die vorliegende Veröffentlichung geht auf ein Symposium vom Juli 2015 anlässlich der Renovierung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte zurück. Für den Band konnten renommierte Vertreter*innen verschiedenster Disziplinen aus Politik, Psychiatrie & Psychiatriegeschichte, Philosophie, Architektur und schließlich auch der Kunst gewonnen werden.
Bezüglich des künstlerischen Aspekts sei als Erstes auf die illustrierte Tanz- und Musik- Performance Raumausloten eingegangen. Sie ist aus der Genderperspektive für die vorliegende Info-Ausgabe von besonderem Interesse. Es handelte sich um eine vom Ensemble unitedberlin begleitete und von der Compagnie Sasha Waltz & Guests in den Räumen der alten Nervenklinik der Charité dargestellte Choreografie des Künstlers Jiří Bartovanec. Ich beschränke mich auf einige subjektive, ästhetische Eindrücke: Auf dem ersten Foto werden drei Frauen mit langen Haaren gezeigt, die leichte, weiße, am unteren Ende rot gefärbte Kleider tragen und sich in ausladenden Bewegungen dem Wiesenboden entgegenzuneigen scheinen, während ein Mann auf einer Trommel den Takt schlägt. Dazu findet sich u. a. der Kommentar: »Man meets nature.«
Dann Szenenwechsel: Zwei Frauen in dunklen, luftigen Gewändern recken sich lasziv-leidend einen Gang entlang und umgarnen dabei einen ausdruckslos geradeaustrompetenden Mann mit weißem Hemd und Fliege. Erneuter Szenenwechsel zum Erdgeschoss der Nervenklinik: Ein weiteres Mal bewegen sich die Tänzerinnen in den weißen Kleidern mit der rot eingefärbten Unterpartie schwungvoll, die langen Haare durch die Luft wirbelnd in einem geometrischen Raum. Es folgt ein gefüllter Vorlesungssaal: Diesmal tragen die Frauen – nun als Musen benannt – graue und lilafarbene Kleider. Sie balancieren über die Vorlesungsbänke, eine von ihnen schwingt ihren Rücken mit offenem Mund und geschlossenen Augen neben dem Katheder ekstatisch in die Höhe.
Diese Beschreibungen mögen genügen, um deutlich zu machen, dass diese Performance einem eindeutigen und in meinen Augen fragwürdigen Gendercode folgt. Dieser ist binär und eindeutig: Mann = körperloser Geist, geordnete Ruhe, Selbstkontrolle, Vernunft. Frau = körperliche Natur, bewegtes Chaos, Gefühl, Leid, Wahnsinn – Wahnsinn, der, so suggeriert m. E. die Performance, sich zum ordnenden, männlichen Takt bewegt, wild durch geometrische und klare Räume tobt oder sich schließlich im Vorlesungssaal vor dem Publikum entlädt (man denke an die eben hier vor einhundert Jahren wohl zur Schau gestellten hysterischen Anfälle). Anstatt diese dichotomen Kategorisierungen gerade für die heutige Psychiatrie zu reflektieren oder in ihrer vermeintlichen Notwendigkeit zu problematisieren – wie es das Ziel des vorliegenden Hefts ist –, schreibt die Performance sie in einer in meinen Augen allzu naiven und plumpen Weise fort.
Es fällt angesichts dieser Eindeutigkeit der geschlechtlichen Kategorien, die die Bilder derart dominieren, schwer, irgendeine Form von »mystery« und »weirdness« (Kommentar der Illustration), geschweige denn eine »Darstellung verschiedenster innerseelischer Räume« (Haslinger) zu erkennen. Fragen, die sich mir im Anschluss hieran stellen: Wieso begreift der Künstler Natur, Gefühl und Wahnsinn als weiblich und Ordnung, Klarheit und Kontrolle als männlich? Wie kommt es dazu, dass diese kulturelle Unterscheidung derart selbstverständlich für ihn ist? Was liegt jenseits (oder diesseits) dieser Dichotomisierungen?
Nach dieser kritischen (und freilich subjektiven) Analyse wird nun auf die weiteren Beiträge des Buchs eingegangen. Die für den Band leitende Frage stellt der Herausgeber Bernhard Haslinger in seiner Einleitung: »Welche Bedeutung […] haben in unserer Zeit, in der Begriffe wie Effizienz, Evidenz und Gewinnmaximierung das Gesundheitssystem dominieren, Freiräume für Unbewusstes, Unberechenbares und Überraschendes? […] Welche Räume hält eine Gemeinschaft wie unsere Gesellschaft bereit für ihre Mitglieder in seelischen Krisen und Grenzsituationen?« (S. 22)
Die Aufsatzreihe wird dann durch den Vortrag von Peter Sloterdijk eröffnet, der eine gelungene Zusammenfassung philosophisch- anthropologischer Debatten aus den 1920er-Jahren um die Offenheit und Verletzlichkeit der menschlichen Welterfahrung bildet und diese kulturtheoretisch einordnet.
Als Nächstes befasst sich der Psychiatriehistoriker Thomas Beddies mit dem historischen Verhältnis von Psychiatrie und Anstaltsbau am Beispiel der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité auf dem Campus in Berlin Mitte während des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert. Beddies gibt Einblick in die Kriterien, nach denen damals der psychiatrische Raum gestaltet wurde: So wurde etwa bei der Planung eines neuen Hörsaals darauf geachtet, »dass die Patienten nach Krankheitsart und Geschlecht getrennt in den Hörsaal gebracht werden konnten« (S. 52). Die Präsentation von Patient*innen zu Lehrzwecken spielte dabei insgesamt eine wichtige Rolle. Beddies macht zudem deutlich, dass die damalige Psychiatrie immer auch Wohnraum für Bedienstete war, die im Klinikum mietfrei logierten.
Anschließend geht Thomas Bock auf die Beziehung von Raum und Psyche aus sozialpsychiatrischer, anthropologischer und trialogischer Sicht ein. Sein Vortrag stellt eine Synthese seiner bisherigen Konzepte aus raumtheoretischer Sicht dar und schließt in Teilen an Sloterdijks Ausführungen an. Ein gesundheitsökonomisches Schlaglicht auf die Thematik wirft Hans Joachim Salizes Beitrag. Der Autor unterstreicht zum einen, wie die Psychiatriereform und Ambulantisierung der Versorgung den öffentlichen Raum in den letzten Jahrzehnten verändert habe. Zum anderen beklagt er, dass eben diese Versorgung heute vor allem von ökonomischen Interessen geleitet sei, wobei die Gestaltung des Behandlungsraums geografisch oder architektonisch kaum eine Rolle spiele.
Wie die architektonische Ausgestaltung von Räumen konkret aussehen könnte, analysiert daraufhin Christine Nickl-Weller. Die Autorin befasst sich mit dem Raum der Stadt als »gebaute Umwelt«, die einen negativen Effekt auf unsere psychische Gesundheit haben könne. Dem folgt ein historischkritischer Blick auf die Architektur einstiger »Tollhäuser und Irrenschlösser«, woraufhin die Autorin das Konzept der healing architecture für die Psychiatrie vorstellt. Wichtige Bestandteile dieses Konzepts sind für sie u. a. eine hohe Durchlässigkeit für Tageslicht, der Zugang zur Natur sowie die Bereitstellung individueller Rückzugsbereiche.
Nach der bereits erwähnten Darstellung der Tanzperformance bildet dann Eckart Rüthers und Angelica Gruber-Rüthers Collage der Podiumsdiskussion einen gelungenen Abschluss des Aufsatzbandes.
Fazit: Abgesehen von einer aus gendertheoretischer Sicht problematischen Kunstperformance stellt der Band eine gelungene Zusammenstellung verschiedener Perspektiven auf das Spannungsverhältnis von Raum, Psyche und Psychiatrie dar. Auch wenn der Band dabei keine abschließenden Antworten auf die Frage danach gibt, welche Räume unsere Gesellschaft »für ihre Mitglieder in seelischen Krisen und Grenzsituationen« (Haslinger, S. 22) bereithält und bereithalten sollte, regt er doch dazu an, dieser Thematik theoretisch wie praktisch in Zukunft mehr Beachtung zu schenken.
Samuel Thoma in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 09.02.2018