Seit einigen Jahren beanspruchen Neurowissenschaftler wie Michael Pauen, Wolf Singer und Gerhard Roth die Deutungshoheit für philosophische, psychologische und soziologische Zusammenhänge. Dies ist insofern erstaunlich, als dass diese Autoren die Ergebnisse eigener oder fremder Forschung überinterpretieren, dabei die Grenzen des eigenen Fachbereiches im Sinne einer »Neuromythologie« (Jaspers) überdehnen und Aussagen über die alltägliche Lebenswirklichkeit treffen, bei denen sie sich selbst »den Boden unter den Füßen« entziehen. Wenn »unser Gehirn« den Menschen determiniert und wir damit über keinerlei Willens- und Entscheidungsfreiheit verfügen, wenn also keine durch Personen frei formulierte Argumente oder Gründe mehr Gewicht haben sollen, wie kann es dann sein, dass die besagten Autoren den eigenen Thesen einen höheren wissenschaftlichen Autoritätsgehalt zumessen?
Wer sich selbst und anderen in der sozialen Praxis ein Minimum an Freiheit und Verantwortung zuspricht, muss solche Thesen als kontraintuitiv verwerfen. Mit Viktor Frankl könnte man die Autoren, die aus einer neurobiologischen Perspektive und mit abgeklärter Attitüde Freiheit und Verantwortung als Illusionen abtun, auch als »terribles généralisateurs « bezeichnen, da sie die eigenen speziellen Forschungsergebnisse verallgemeinern und ihnen einen zu großen Stellenwert zumessen.
Gleichwohl scheint der »Neuroboom« in den letzten Jahren die bestehenden Verhältnisse auf den Kopf gestellt zu haben, was weniger durch stichhaltige neurobiologische Forschungsergebnisse begründet werden kann als durch die mediale Vervielfältigung der eigenen Meinung (z. B. im sogenannte »Neuromanifest« renommierter Neurowissenschaftler von 2004). Dieser neurobiologische Deutungsanspruch hat sich auch auf andere Fachbereiche ausgewirkt und beispielsweise innerhalb der Psychotherapieforschung zur Frage geführt, ob eine an neurowissenschaftlichen Kriterien ausgerichtete Psychotherapie effizienter in der Behandlung von psychisch Erkrankten sein kann.
Sowohl in der Verhaltenstherapie, mit der Propagierung einer »Neuropsychotherapie« (Klaus Grawe), als auch innerhalb des psychoanalytischen Diskurses (z. B. durch Marianne Leuzinger-Bohleber) gibt es mittlerweile Psychotherapieforscher, die ein solches Vorgehen begrüßen würden. Auf der anderen Seite regt sich aber auch Widerstand, insbesondere von praktisch tätigen Psychotherapeuten, da befürchtet wird, dass das neurowissenschaftliche Vorgehen eine weitere Regulierung und Ökonomisierung der eigenen Praxis bewirken könnte.
Innerhalb dieser Debatte, in der zunehmend die Kategorien und Ebenen miteinander vermischt werden, und die Alltagsebene vergessen zu werden droht, stellt Matthias Richters Buch »Psychotherapie zwischen Neurowissenschaften und Kunst der Begegnung « eine wohltuende Ausnahme dar. Der in eigener Praxis in Heidelberg arbeitende Philosoph und tiefenpsychologisch fundiert arbeitender Psychotherapeut reflektiert mit seinem pragmatischen Ansatz für die psychotherapeutische Praxis relevante Begrifflichkeiten wie »Begegnung«, »Emanzipation «, »Freiheit« und »Verantwortung«. Dreh- und Angelpunkt für die Verortung der Neurowissenschaften innerhalb des psychotherapeutischen Diskurses ist die »zwischenmenschlichen Praxis«, durch die der andere als Person Anerkennung und Wertschätzung erfährt.
In der Terminologie von Aristoteles, auf die sich der Autor bezieht, meint Praxis dabei einen selbstzweckhaften Vollzug, in Abgrenzung zur Herstellung (poiesis) einer Sache, wie z. B. eines neurophysiologischen Zustandes. Von diesem Ausgangspunkt her verortet der Autor sowohl den ökologisch-systemischen Ansatz von Thomas Fuchs, der als Kritik an den »Neuromythen« das Gehirn eingebettet in unseren Leib und in eine soziale Umwelt sieht, als auch die neurobiologische Identitätstheorie u. a. von Michael Pauen, die in reduktionistischer Weise das Bewusstsein mit dem Gehirn identifiziert. Jedem der dargestellten Ansatzpunkte bemisst Richter ein relatives Recht zu, jedoch immer nur insofern dieser auf die zwischenmenschliche Praxis zurückbezogen ist.
Der Autor verfügt über ein beeindruckendes Wissen, was von der antiken Philosophie, der philosophischen Ethik, der Phänomenologie und Existenzphilosophie, der Kritischen Theorie, bis hin zum aktuellen neurowissenschaftlichen und psychotherapeutischen Diskurs reicht. Auf jeder Seite lernt der Leser mehr dazu und staunt darüber, wie es Richter gelingt, die großen Linien zu ziehen, die von Aristoteles’ Tugendethik zur aktuellen Neuro-Debatte führen. Auch ist das Buch nicht dogmatisch, vielmehr versucht es den verschiedenen Standpunkten innerhalb eines für die alltägliche Praxis sinnvollen Gefüges Raum zu geben.
Das Buch stellt von der ersten bis zur letzten Seite ein Lesevergnügen dar und ermöglicht es, die Debatte von einem vernünftigen Standpunkt aus zu betrachten und mit mehr Gelassenheit auf die Vereinnahmungstendenzen durch Neurowissenschaftler zu blicken. Jedem Psychotherapeuten, der sich in seinem Alltag mit solchen Fragen konfrontiert sieht, jedem Philosophen, der sich für die psychotherapeutische Praxis interessiert, aber auch jedem philosophisch interessierten Neurowissenschaftler möchte man dieses Buch ans Herz legen. Es hinterlässt den Eindruck, dass hier jemand für ein wichtiges Gut streitet, nämlich für die Rehabilitierung der zwischenmenschlichen Praxis. Aus Sicht des Klinikers, der nicht das Gehirn, sondern die freie Person im Blick hat, ist ihm diese Rehabilitation gelungen.
Daniel Broschmann in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024