Die Zahl der nichtklinischen Unterstützungsangebote für chronisch psychisch kranke Menschen schreitet unaufhaltsam voran. Insbesondere das ambulant betreute Wohnen breitet sich in der gesamten Republik geradezu lawinenartig aus. Und das stationäre Pendant – früher Heimversorgung genannt – dient vor allem der intensiven Betreuung psychisch kranker Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen; zum Teil in geschlossener oder nach moderner Begrifflichkeit beschützter Form. Die betreuten Wohnformen haben die Langzeitstationen der psychiatrischen Landeskrankenhäuser abgelöst. Ihr Ziel ist nicht mehr die Behandlung, sondern die Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags – nach Möglichkeit integriert in die Gemeinde.
Eine Theorie hat die gemeindepsychiatrische Unterstützung für ihr Handeln nicht. Systemische Modelle werden gerne angewandt, aber für das, was die klinische Psychiatrie traditionell Therapeut-Patient-Beziehung nennt, existiert kein theoretischer Hintergrund, der Berufsanfängern im Betreuten Wohnen vermittelt werden könnte.
Dabei gilt es schon nahezu als Verstoß gegen die Standesehre, wenn ein Team des betreuten Wohnens nicht mit einem Bezugspersonensystem arbeitet. Dementsprechend wird von der psychiatrischen Pflege nachhaltig betont, man betreibe das Gewerbe der Beziehungsarbeit. Und die Vertreter der Soltauer Initiative würden vermutlich behaupten, sie tun das auf der Grundlage eines mitmenschlichen Verständnisses von Fürsorge.
Die Lektüre des Buches von Bernhard Strauß hat mir ein vertieftes Verständnis dafür gegeben, was die sozialpsychiatrischen Bezugspersonen auszeichnet, wenn es ihnen gelingt, zu ihren Klienten und Klientinnen eine Beziehung aufzubauen: Sie stellen eine Bindung her. Bereits im ersten Halbsatz wird der Lesende darauf gestoßen, warum er sich mit dem Thema auseinandersetzen sollte: "Bindung ist ein primäres menschliches Bedürfnis ..." Diese Prägnanz prägt das gesamte Werk, das damit trotz der Fülle der Informationen erfreulich kurz ist und die tiefgehenden Erkenntnisse aufgrund des verständlichen Schreibstils leicht rezipiert werden können.
Der Autor ist psychologischer Psychotherapeut und leitet das Institut für psychosoziale Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. Obwohl er den Überblick über den Wissensstand der Bindungstheorie vermutlich für psychotherapeutische Tätige verfasst hat, erscheint mir seine Aufarbeitung für Bezugspersonen in der Sozialpsychiatrie von hohem Interesse.
Die Bindungstheorie wurde von John Bowlby bereits in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts aus einem psychoanalytischen Verständnis herausentwickelt und von Mary Ainsworth in der Folgezeit wesentlich ausdifferenziert. In der psychoanalytischen Gemeinde stieß sie aufgrund der zu geringen Beachtung der Triebtheorie zunächst auf heftige Kritik, um dann zwanzig Jahre lang totgeschwiegen zu werden. Der "Tabubruch" von Bowlby lag in seiner Auffassung, dass Sicherheit und nicht Sexualität das zentrale Thema der kindlichen Entwicklung sei.
Die Entwicklung der Bindungstheorie ist damit auch ein Lehrstück über den Umgang etablierter Institutionen mit innovativen Strömungen. Erst auf der Grundlage der psychoanalytischen Säuglingsforschung konnte sich die Bindungstheorie auch in den psychoanalytischen Gesellschaften etablieren. Nach Auffassung des Autors vermag sie über die Therapieschulen hinweg ein Modell für die Entwicklung der Persönlichkeit herzustellen.
Ausgangspunkt für die Bindung ist nach Ainsworth die "mütterliche Feinfühligkeit", sie unterscheidet zwischen einer autonomen (sicheren), einer abweisenden (vermeidenden) und einer verstrickten (ambivalenten) Bindungsrepräsentation. Bernhard Strauß gelingt es, Theorie, empirische Untersuchungen und Erkenntnisse für die Psychotherapie bis hin zu den Auswüchsen (Bindungsvermeidung als günstige Eigenschaft für Tennisprofis) umfassend und verständlich darzustellen.
Der Lesende hat nach der Lektüre das beglückende Gefühl, in relativ kurzer Zeit viele neue Erkenntnisse und Anregungen für die eigene Person und für die sozialpsychiatrische Arbeit gewonnen zu haben. Auch wer nicht mit der psychoanalytischen Theorie und Terminologie vertraut ist oder ihr ablehnend gegenübersteht, sollte sich die Lektüre nicht versagen.
Michael Konrad in Psychosziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024