Kinder haben feine Antennen. Sie spüren, wenn sich in ihrer Umgebung atmosphärisch etwas verändert, wenn Eltern oder ihre Bezugspersonen in Kindergarten und Schule gestresst sind, wenn wegen schwieriger "Erwachsenengespräche" sich die Türen vor ihnen schließen. Kinder können aber noch nicht einordnen. Um sich diese Veränderungen zu erklären, entwickeln sie oft blühende Fantasie und suchen im schlimmsten Fall das Auslösemoment als Schuld bei sich selbst.
Da ist es gut, Probleme in der Familie zeitig und offen mit ihnen zu besprechen. Da ist es gut, wenn es zur Hilfestellung Bilder und Geschichten gibt, die solche Probleme kindgerecht vermitteln. Der BALANCE buch + medien verlag hat diese Erkenntnis mit seiner Bilderbuch-Reihe "kids in BALANCE" aufgegriffen. Als Beispiel wollen wir hier vier der derzeit zehn vorliegenden, sehr unterschiedlich aufgemachten Ausgaben vorstellen.
Da gibt es zum Beispiel "Mein großer Bruder Matti", in der zweiten Auflage schon so etwas wie ein Klassiker unter den Wartezimmerbüchern, das beschreibt, wie und vielleicht auch warum ADHS-Kinder ein bisschen anders "ticken".
Der kleine Julius erzählt, warum die Lehrerin bei der Mutter angerufen und gefragt hat, "was sie denn jetzt bitte machen soll". Denn: "Klar, jeder Mensch weint mal. Und jeder Mensch ist mal sauer. Das weiß ich. Aber ich habe auch schon gemerkt, dass bei Matti alles viel stärker ist als bei mir: die Wut, das Traurigsein, aber auch die Freude."
Schnörkellos erzählt die Schulpsychologin und Lerntherapeutin Anja Freudiger aus der Perspektive eines Kindes, wie das Thema Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität den Alltag einer Familie bestimmen kann. Aber sie vergisst auch nicht – und unterstreicht das in den schön aquarellierten Bildern –, dass das ADHS-Kind Matti eben nicht nur ein "Problemkind", sondern ein lebensfroher und hochkreativer Junge ist. N
icht alle mögen ihrem rein somatischen Erklärungsansatz widerspruchslos folgen: "... im Gehirn jedes Menschen gibt es Dinger, die Botenstoffe heißen. Sie flitzen ständig zwischen den Nervenzellen herum und geben Informationen weiter. Etwa so wie die Post, die Briefe und Pakete von einem Haus zum anderen befördert. Leider funktioniert diese Post in Mattis Hirn nicht ganz wie vorgesehen." Um aber betroffenen Kindern oder ihren Geschwistern und Schulkolleginnen und -kollegen ADHS zu erklären, würden gesellschaftskritische Ansätze ohnehin zu weit führen. Da ist der Postvergleich nachvollziehbar und einprägsam.
Ursachenforschung betreiben die Jugendpsychologin Barbara Tschirren und die Verhaltenstherapeutin Pascale Hächler dagegen gar nicht, wenn sie eine Störung aus dem autistischen Formenkreis beschreiben. Sie berichten aus der Sicht von Loris. Der zählt Stunden und Tage bis weit in die Tausender hinein, liebt Mathe, hasst Lärm und und mag es, "wenn jeder Tag genau gleich ist und alle Dinge ihren festen Platz haben". Tschirren und Hächler erzählen, was passieren kann, wenn Loris’ Tag aus den Fugen gerät, wenn von dem autistischen Jungen Spontaneität gefordert ist. "Vor lauter Aufregung kann ich dann nicht einmal mein Brötchen essen."
Nicht nur der komplexere Inhalt, auch die sehr künstlerischen, sparsam kolorierten Bilder von der Künstlerin Martine Mambourg sind nicht für ganz Kleine geeignet. Bei Leserinnen und Lesern ab dem Ende der Grundschule aber werben sie sehr plastisch um Verständnis für das Anderssein eines Kindes. Dazu erklären sie ganz nebenbei auch, wie sich die Umgebung durchaus auf dessen Bedürfnisse einstellen kann. Und dass ein gegenseitiges Verstehen für beide Seiten ein großer Gewinn ist.
Nicht um Probleme, nicht um Störungen geht es dagegen in "Jette sagt nicht immer Ja". Vielmehr beschäftigt sich die Kinder- und Jugendtherapeutin Ilona Lammertink schon lange mit der Resilienzförderung. Ihre Botschaft an sehr junge Leserinnen und Leser ist einfach: Wer immer "Ja" sagt, obwohl das Bauchgefühl "Nein" meint, verleugnet sich selbst. Und das kann unglücklich, ja sogar krankmachen.
Die mondgesichtigen Figuren in Bonbonfarben, die die Illustratorin Lucie Georger zur visuellen Übersetzung des Anliegens geschaffen hat, machen Spaß. Ein kleines Büchlein, das schon Kindergartenkinder für spätere Anforderungen rüsten soll: "Echte Freunde", heißt es da, "mögen dich, auch wenn du mal Nein sagst."
Und das Leben ist ja nicht immer leicht, wie "Papas Unfall" unumwunden zeigt. Wie geht man damit um, wenn ein Mensch aus der nächsten Umgebung plötzlich krank oder körperlich eingeschränkt ist, wenn diese Krankheit auch die Persönlichkeit verändert, aggressiv macht, ja sogar die geistige Wendigkeit einschränkt? So jedenfalls wird es in dieser Erzählung geschildert, die nichts beschönigt: "... er war nicht mehr der Papa, der er vor dem Unfall war. Er konnte nicht mehr gehen. Außerdem hat sich seine Stimme verändert. Er sprach plötzlich sehr laut und trotzdem konnten wir ihn nicht verstehen ..."
Zwei kleine Mädchen müssen sich nicht nur mit dem veränderten Vater, sondern mit einem ganz neuen Alltag, mit Pflegekräften, mit der Haushaltshilfe, der jetzt mehr arbeitenden Mutter auseinandersetzen. Ein Happy End kann es da – selbst im Bilderbuch – nicht geben. Und doch bieten die Autorinnen Angelika Preß und Rabea Müller Ausblicke auf ein Leben, das anders und doch voller Hoffnung sein kann. Achim Robert Kirsch hat dazu die Bilder geschaffen und verbirgt darin seinen beruflichen Hintergrund als Trickfilmproduzent nicht: Die Figuren in "Papas Unfall" kommen daher wie aus einem Disneyfilm der frühen Siebziger.
Dörte Staudt in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024