Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Kinder psychisch erkrankter Eltern

Thema

Der Sammelband präsentiert Grundlagenwissen und praktische Handlungsansätze für die Arbeit mit Kindern psychisch erkrankter Eltern. Aus interdisziplinärer Perspektive werden wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Handlungsansätze vorgestellt, der Fokus liegt neben der Auseinandersetzung mit den Risikofaktoren hauptsächlich auf den vielfältigen Entlastungsmöglichkeiten für Kinder und auf der Stärkung der Eltern, Familien und Fachkräfte.

Autor*innen

Die Herausgeber*innen Prof. Dr. Sabine Wagenblass und Prof. Dr. Christian Spatscheck lehren im Studiengang Soziale Arbeit an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Bremen. Die Einzelbeiträge wurden neben den Herausgebenden von versierten Fachkräften im Bereich der psychiatrischen Versorgung und der Klinischen Sozialarbeit (u.a. Prof. Dr. Jeanette Bischkopf, Prof. Dr. Silke B. Gahleitner) verfasst.

Aufbau und Inhalt

Der Band ist nach einer Einleitung, in der die einzelnen Kapitel kurz vorgestellt werden in die Abschnitte „Sehen“, „Wissen“ und „Handeln“ gegliedert, wobei grundsätzliches Bewusstsein für die Bedarfe und Lebenslagen von Kindern psychisch erkrankter Eltern vermittelt, der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand zur Thematik erschlossen und konkrete Methoden und Handlungsansätze vorgestellt werden.

Sehen

Der erste Abschnitt fokussiert mit zwei Beiträgen auf die historische und fachliche Einordnung des Themas und zeigt auf, dass (und warum) Kinder psychisch kranker Eltern lange Zeit übersehen wurden. Weitere Schwerpunkte liegen in der strukturierten Analyse der Bedingungen und Auswirkungen der psychischen Erkrankung von Eltern(teilen) im System einer Familie und postuliert entsprechend einen systemischen Behandlungsansatz, in dem nicht die Problemlagen einzelner Betroffener im Zentrum stehen, sondern die Leidenszustände aller Beteiligten Gegenstand von Problemwahrnehmung und Intervention sein sollten. Diese Überlegungen werden in einem zweiten Text um die Ebene sozialpädagogischen Fallverstehens und sozialer Diagnostik im Sinn einer ganzheitlichen Fallwahrnehmung weitergeführt.

Wissen

Der zweite Abschnitt vermittelt Grundlagenwissen zur Arbeit mit Kindern psychisch kranker Eltern. Die Schwerpunkte liegen auf der Vermittlung grundsätzlicher Aspekte verschiedener psychischer Erkrankungsformen und deren potenzielle Auswirkung auf Kinder, deren Lebenssituation und Entwicklung, wobei in einem eigenen Beitrag besonders auf die Situation von Eltern mit Traumaerfahrung, bzw. Traumafolgestörung eingegangen wird. Weitere Vertiefungen beziehen sich auf bindungsspezifische Aspekte, die Herausforderungen der Beziehungsgestaltung mit betroffenen Kindern und deren Familien, die Anforderungen an die Gestaltung von Hilfe- und Schutzleistungen der Jugendhilfe und die rechtliche Grundlagen der beteiligten Hilfesysteme in der Arbeit mit Kindern psychisch kranker Eltern. Die Ansätze zielen auf die Förderung der Erziehungsfähigkeit der Eltern, deren Handlungsfähigkeit „trotz psychischer Erkrankung“ (151)

Handeln

Die Interventionsebenen „Eltern stärken“, „Kinder stärken“, „Familien stärken“ und „Fachkräfte stärken“ bilden den umfangreichsten Abschnitt des Herausgeberbandes. Es werden u.a. Methoden und konkrete Praxisprojekte vorgestellt, die auf die Bindungsfähigkeit betroffener Eltern fokussieren, Beratungsansätze formulieren, ein Patenschaftssystem für Kinder psychisch erkrankter Eltern vorschlagen, oder in ein Workshopangebot für Kinder („Kidstime“) einführen. Mit Fokus auf das gesamte Familiensystem werden mentalisierungsbasierte Familieninterventionen, der familienbezogene Ansatz „CHIMPS“, ein Beratungs- und Therapieangebot das Kinder, Jugendliche und ganze Familien auch über lange Zeitspannen begleiten kann und die Weiterentwicklung des tradierten Angebots „Familienrat“ (hier mit Schwerpunkt auf Hilfeplanung, Ressourcenaktivierung, Partizipation und Empowerment) aufgegriffen. Mit Blick auf die Ebene der Fachkräfte schließt der Abschnitt und damit das Fachbuch auf die Aspekte Weiterbildung und Selbstfürsorgestrategien der Professionellen.

Zielgruppe des Buches

Der Band ist in der UTB-Reihe erschienen, eine Kooperation verschiedener Verlage (hier der Psychiatrie Verlag aus Köln), die das Ziel verfolgt Lehr- und Lernmaterialien für Studium und Praxis zu veröffentlichen. Entsprechend richtet sich der Band an Studierende aller Berufsgruppen, vorwiegend der Sozialen Arbeit und an Fachkräfte im Handlungsfeld des Arbeitens mit Kindern psychisch erkrankter Eltern.

Diskussion

Kinder psychisch erkrankter Eltern wurden im Fachdiskurs und damit in ihren Belastungen und Leidenszuständen lange übersehen. Das Verdienst des Herausgeberbandes ist die systematische Beschäftigung mit der Thematik „Kinder als betroffene Angehörige“. Einem systemischen, bindungs- und ressourcenorientierten, partizipativen, auf Empowermentprozesse zielenden Paradigma folgend erklären die einzelnen Beiträge, was es bedeutet, als Kind psychisch erkrankter Eltern aufzuwachsen, mit den damit verknüpften Belastungen und Dynamiken konfrontiert zu sein. Der Blick auf diese Thematik ist dabei jener der Sozialen Arbeit, insbesondere der Jugendhilfe als eine pädagogische Profession. Sozialpädagogisches Diagnostizieren und (Fall)verstehen in einem dialogischen Prozess bilden dafür den Rahmen, die Herausgeber*innen haben bewusst diesen, und keinen rein entwicklungspsychologischen oder psychiatrischen Zugang gewählt. Dennoch kommt psychiatrisches und psychologisches Wissen nicht zu kurz, um die unterschiedlichen Belastungsreaktionen, Bedarfe und psychosozialen Leidenszustände erkennen und beantworten zu können. Im Sinn eines Lehrbuchs finden sich am Ende jeden Kapitels Reflektionsfragen zum jeweiligen Text, nebst weiterführenden Literaturangaben. So lässt sich das Buch sehr gut für Studienzwecke, oder zur Reflexion der Praxis verwenden, das Buch je nach akutem Bedarf erkunden, ohne es komplett von vorn bis hinten durchlesen zu müssen, sondern der eigenen Bedarfslage zu folgen.

Die Interventionsansätze sind breit gefächert, fokussieren auf Förderung und Ressourcenentwicklung, aber auch auf Schutzmaßnahmen für betroffene Kinder, zielen auf die Unterstützung und Entwicklung von Familien, die Koordination der Hilfen zwischen Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfemaßnahmen und benennen auch die Ebene der Fachkräfte bzgl. Weiterbildung und Selbstfürsorge. Ein rundum gelungener Reader, der alle wesentlichen Aspekte dieser Thematik aufgreift, didaktisch gelungen präsentiert und zusammenführt.

Fazit

„Kinder psychisch erkrankter Eltern“ bündelt das notwendige Wissen und die spezifischen Zugänge und Methoden zu Kindern, Eltern, Familien und die Bedarfe der Fachkräfte, um in diesem sensiblen Feld zuverlässige, fördernde und sichernde Maßnahmen anwenden zu können. Angesichts der hohen Anzahl psychisch erkrankter Erwachsener in Deutschland müssen die Kinder immer mitgedacht werden. Das Buch bietet dazu die notwendige fachliche Orientierung – und das auf höchstem Niveau.

Dr. phil. Gernot Hahn in social.net

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024