Erstmals vor rund 90 Jahren verwendeten Leo Kanner und Hans Asperger, unabhängig voneinander, den Autismusbegriff für ein Störungsbild ausgeprägter Introvertiertheit, die meist vor dem dritten Lebensjahr auffällt. Die derzeit gültige ICD-10 unterscheidet Kanner-Syndrom, Asperger-Syndrom, Rett-Syndrom und atypischen Autismus. Die dadurch suggerierte trennscharfe Abgrenzung verschiedener Autismustypen hält aber näherer bzw. empirischer Betrachtung nicht stand. Im DSM-5 werden die genannten Syndrome zusammenfassend als Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) bezeichnet. Auch die ICD-11, die ab 2022 gültig sein wird, wird diesem Ansatz folgen und die Subtypen nicht mehr aufnehmen.
Bei allen Unklarheiten über die Ursachen herrscht Einigkeit darüber, dass ASS tiefgreifende, irreversible Entwicklungsstörungen sind – also keine Erkrankungen, die behandel- oder gar heilbar wären. ASS behindern die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sodass der gesetzliche Schutz der UN-BRK und des Bundesteilhabegesetzes greift. Die Prävalenz liegt bei 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung. Jungen sind zwei- bis dreimal so häufig betroffen wie Mädchen.
Es liegt in der Natur des Phänomens, dass die Betroffenen und ihr Umfeld lebenslang mit den Auswirkungen zu tun haben. Seltsamerweise jedoch steht einem gut ausgebauten Netz kinder- und jugendpsychiatrischer Hilfen nichts Vergleichbares für ASS-Betroffene im Erwachsenenalter gegenüber. »Unseres Wissens gibt es in Deutschland – bei geschätzten 500.000 Betroffenen – etwa fünfzig stationär-psychiatrische Behandlungsplätze, die auf erwachsene hochfunktionale Autisten zugeschnitten sind«, stellen die Autoren – der Arzt Andreas Riedel und der Erziehungswissenschaftler Jens Jürgen Clausen – eingangs fest. Der Umgang mit autistischen Erwachsenen sei für viele Menschen befremdlich oder gar beängstigend, argumentieren sie.
Mit dem vorliegenden PraxisWissen-Band aus dem Psychiatrie Verlag wenden sich Riedel und Clausen an Fachkreise wie Psychologen und Psychiater, aber auch an Angehörige, Arbeitgeber und nicht zuletzt an selbst von ASS betroffene Menschen. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf hochfunktionalem Autismus, also auf ASS des Erwachsenenalters, ohne Entwicklungsrückstand, bei normaler oder höherer Intelligenz. Im Vordergrund des Störungsbildes stehen emotionale und kommunikative Defizite, die das Zusammenleben zwischen ASS-betroffenen und »neurotypischen« Menschen (um nicht von Normalen, Nichtgestörten oder Gesunden zu sprechen) erschweren.
Das erste Kapitel heißt schlicht »Was ist Autismus?«. Es widmet sich gründlich der Begriffsbestimmung, Diagnostik und Differenzialdiagnostik. Neben dem Blick auf Defizite und Hilfebedarfe kommen auch »autistische Ressourcen« zur Sprache. In den folgenden Abschnitten geht es um therapeutische Zugänge, aber auch um alle Lebenslagen in den klassischen Feldern Wohnen, Arbeit und Freizeit.
Wie ein roter Faden zieht sich durch den Text, dass ASS ein fundamental anderes Kommunikationsverhalten des neurotypischen Gegenübers erfordern. Autistische Menschen haben keinen Zugang zu ironischer, humorvoller, indirekter Sprache. Auch der Informationsgehalt von Mimik und Gestik ist ihnen nicht unmittelbar zugänglich. Was für den Umgang mit psychotisch erkrankten Menschen hilfreich ist – z.B. die »Kunst des Indirekten« (Schernus) – wird im Gespräch mit ASS-betroffenen Menschen nicht funktionieren. Missverständnisse sind vorprogrammiert, mit viel Potenzial für Ärger und Frustration bei allen Beteiligten.
Andreas Riedel und Jens Clausen ist es in hervorragender Weise gelungen, auf nur 150 Seiten einen differenzierten Überblick über das Störungsbild zu geben. Die Zielgruppe hat das schnell erkannt und beherzt zugegriffen. Die zweite, aktualisierte Auflage ist bereits im Handel.
Martin Osinski in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024