Bei der Dissertation von Heiko Hoffmann, aktuell Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Freiburg, handelt sich um eine Studie zu sozialen Beziehungsnetzwerken von Menschen mit Borderline-Diagnosen. Sie hat folgende Fragestellungen: Wie sind diese Netzwerke gestaltet? Wie stellen diese Menschen Identität und Agency – am ehesten übersetzbar mit Handlungsmächtigkeit, Handlungsfähigkeit, Handeln – dar und her? Wie bedingen sich Netzwerkstrukturen und das Handeln der betroffenen Personen gegenseitig? Dabei ist das Ziel von Hoffmann "trotz sozialwissenschaftlicher Perspektive, Anschlussfähigkeit zu psychiatrischen Diskursen herzustellen".
In einem ersten Kapitel zeichnet er das aktuell bestehende psychologische und psychiatrische Verständnis von Borderline aus Perspektive von Psychoanalyse. Objektbeziehungstheorie, Bindungstheorie, dialektisch-behavioralen Vorstellungen und Neurophysiologie nach. Er setzt sich dann mit den Gegenständen seiner Forschungsfragen (Identität, Agency, soziale Netzwerke) auseinander.
Der folgende empirische Teil besteht aus einer sozialen Netzwerkanalyse mit 59 Personen und identifiziert vier verschiedene Formen von Netzwerktypen. Beispielhaft rekonstruiert Hoffmann dann mittels qualitativer Netzwerkinterviews Identität und Agency an sechs kontrastiven Fällen, um anschließend fallübergreifende Muster herauszuarbeiten. Als wesentliche Ergebnisse finden sich: Eine Vielzahl von borderlinetypischen Verhaltensweisen werden angemessener als »intersubjektive Routinen« aufgefasst, die durch die jeweiligen Netzwerke hervorgebracht und durch alle Beteiligten (einschließlich der Professionellen) aufrechterhalten werden.
Für das Gelingen sozialer Rehabilitation erscheint der Fokus auf die Netzwerkstrukturen und das Verständnis von Borderline als ein Muster von Interaktion erfolgversprechender als ein Verständnis als Persönlichkeitsstörung. Dabei zeigt sich, dass Menschen mit Borderline-Diagnosen durchaus bewusst und reflexiv Neuerungen einführen und sich von Routinen entfernen können, insbesondere bei "Irritationen durch unerwartete Problemstellungen des Handelns und durch zwischenmenschliche Begegnungen".
Was ist der Gewinn der nicht immer ganz einfachen Lektüre? Sie erweitert den Blick. Der Einbezug der sozialen Netzwerke ergibt eine umfassendere Wahrnehmung für Diagnostik, Behandlung, Umfeld, soziale Rehabilitation und nicht zuletzt auch eigener Verstrickung der professionellen Helfer. Die auszugsweise vorgestellten Fälle dokumentieren sehr empathisch, achtsam und aufschlussreich die gewonnenen Typisierungen. Man würde gerne die Übertragung der Studie auf Menschen mit anderen psychiatrischen Diagnosen und Erkrankungen realisiert sehen.
Das Buch ist zur Lektüre empfohlen allen Professionellen, die mit Menschen mit Borderline-Diagnosen befasst sind, aber auch Personen, die an der Anwendung sozialwissenschaftlicher Herangehensweise an medizinisch-psychiatrische Diagnosen interessiert sind.
Reiner Zitzmann in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024