»Nur Mut - es gibt nicht nur eine Wirklichkeit!«Mit dieser Aussage unterstützen die Verfasser Martine Hoffmann und Gilles Michaux von Anfang an Betroffene, die unter einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung leiden und deren Wirklichkeit in weiten Zügen eine andere ist als die ihrer Umwelt. Weiter machen sie Hoffnung, dass viele der belastenden Verhaltensweisen erlernt wurden und deshalb auch wieder verlernt werden können.
So stellen sie wissenschaftlich fundiert und sprachlich gut lesbar das Wechselspiel von biogenetischen Voraussetzungen, psychosozialen Faktoren und Umwelteinflüssen dar, beleuchten die entwicklungsbiologische Entwicklung des Menschen und das Verhältnis von Ratio und Emotio. Lernen wird als lebenslange Auseinandersetzung zwischen Selbst und Umwelt vorgestellt, deren Syntheseleistung in der Identitätsfindung des Einzelnen liegt. Das Ich sei »ein in Bewegung befindliches Wesen«, nicht auf Vergangenheit, sondern auf Zukunft gerichtet und dazu gehöre elementar auch die Bedeutung der Sprache und Ausdrucksfähigkeit des Einzelnen.
Vor diesem Hintergrund zeigen die Autoren nun Formen emotionaler Instabilität auf, wobei sie der Borderline-Persönlichkeitsstörung ihr besonderes Augenmerk widmen. So stellen sie die existenziellen Schwierigkeiten der Betroffenen im Umgang mit Emotionen dar und weisen u. a. nach, dass neben biogenetischen häufig psychosoziale Faktoren Gründe für diese Problematik sind, wie z. B. fehlende oder mangelnde elterliche Fürsorge in Kindheit und Jugend als eine Erfahrung frühkindlicher Stresssituationen, die die Gefühlsentwicklung durcheinander gebracht hat.
Die in unterschiedlichsten Situationen explosiven Gefühle der Betroffenen würden zu einer Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit führen, da sie sie selbst nicht unter Kontrolle bekommen könnten. Kognitive Interpretationsprozesse als Korrektiv könnten nicht eingesetzt werden, da Klarheit über Ursachen fehle, die akuten Situationen überfordern würden und die Problematik anderen sprachlich nicht deutlich gemacht werden könne. Die Probleme, die sich daraus für die Betroffenen ergäben, seien Erfahrungen innerer Leere, Depressionen, Ich-Fremdheit und das Gefühl der sozialen Ausgeschlossenheit. Sie würden häufig zu Selbstverletzungen und nicht selten zu suizidalen Gedanken und auch Handlungen führen.
Hoffmann und Michaux machen nun deutlich, dass es nicht nur die eine normale Wirklichkeit gibt, sondern dass sich jedes menschliche Hirn in seiner Auseinandersetzung mit dem Selbst und der Umwelt seine Wirklichkeit baut und dass alle diese Wirklichkeiten ihre Berechtigung haben, sich also niemand grundsätzlich ausgegrenzt fühlen muss. Diese Wirklichkeiten benötigen aber zum Zusammenleben ihrer Träger eine Schnittmenge. Und so machen sie Betroffenen und ihrer Umwelt Mut, indem sie verdeutlichen, dass fehlerhaft Zusammengebautes, d. h. fehlerhaft Erlerntes, auch wieder verlernt werden kann und das Leben und Zusammenleben neu gebaut werden können. Dazu geben sie Fallbeispiele und vielfältige Hinweise, von der kurzfristigen Strategie im akuten Notfall bis hin zu langfristigen Therapien, betonen dabei aber, wie wesentlich der intensive Einsatz aller Beteiligten ist.
Dieser Ratgeber sollte in die Hände der Betroffenen, ihrer Familien und ihres weiteren Umfelds kommen. Hilfreich ist er auch für schulische Beratungsteams oder andere beratende Institutionen, die professionelle Hilfestellung leisten wollen.
Gabriele Beeck in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024