Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Gesundung ist möglich! Borderline-Betroffene berichten

„Ich weiß noch, wie ich eine Psychiatrie als sicheren Rahmen empfunden habe und sich Fixierungen oder Ausgangssperren für mich als ein fürsorglicher Halt darstellten. Das ist Lichtjahre her, heute würde ich darunter endlos leiden, weil ich längst etwas habe, was mir früher fehlte: ein Gefühl für meine Würde“, schreibt Anja, und Birgit berichtet: „Ich will keine meiner Errungenschaften verlieren: die Beziehung, die Freunde, die Schule. Ich habe nicht mehr die Möglichkeit, mich völlig in mir selbst zu verlieren und von jetzt auf gleich alles hinzuschmeißen.“

Erfahrungen im Alltag

Diese beiden Autorinnen und achtzehn weitere Menschen, die irgendwann in ihrem Leben die Diagnose Borderline bekommen haben, schreiben von ihren Erfahrungen in ihrem Alltag als „gesundete“ Borderline-Betroffene.

Im ersten Teil des Buchs finden sich Texte zu den neun Kriterien (DSM-IV), nach denen Borderline diagnostiziert werden kann. Der einzige männliche Teilnehmer des Buchprojekts und acht Frauen berichten zu jeweils einem vorangestellten Kriterium, wie sich die beschriebenen Symptome im Laufe der Zeit für sie verändert haben oder wie sie ganz verschwunden sind.

An die „Kriterientexte“ schließen zwölf ausführlichere Erzählungen an. In diesen Texten beschreiben weitere Autorinnen ihr Gesundetsein, indem sie zurückblicken. Dabei heißt „Gesundung“ von Borderline nicht „Heilung“ im Sinne von Symptomfreiheit. So mag es zunächst irritieren, dass Anja beispielsweise von einer schweren Selbstverletzung berichtet, die erst kurze Zeit zurückliegt, obwohl sie beschreibt, sie habe ihr Leben im Griff. Wie in ihrem Text wird jedoch auch in vielen anderen Schilderungen deutlich, dass „Gesundung“ vor allem bedeutet, Verantwortung für sich zu übernehmen und achtsam mit sich selbst umzugehen, und das gilt eben auch für den Umgang mit „Ausrutschern“.

Verantwortung für sich übernehmen

„Ich bin erwachsen geworden“, beschreibt Thomas seine Entwicklung und bringt damit auf den Punkt, was sich in vielen Erzählungen findet. Bedeutende Zeugen dieser Entwicklungen sind die „Vergangenheitsbewahrer“, wie Sirikit diejenigen nennt, die ihre „Entwicklung miterlebt haben“. Professionell Tätige, Freunde und Angehörige sind in den Beschreibungen wichtige Partner auf dem Weg der Gesundung. Diesen Personen darf der Leser manchmal über die Schulter schauen, indem er einem Text im Briefformat folgt oder in abgedruckten Tagebuchauszügen erfährt, wer für die Entwicklung der Autorin bedeutsam war.

Im Nachwort des Buches finden sich schließlich Fachinformationen zu Borderline und ein Anhang mit Buchempfehlungen sowie Internetadressen. Wahrscheinlich nicht zufällig wird in vielen Texten und besonders im Nachwort des Herausgebers immer wieder der Versuch gemacht, die beschriebenen Erfahrungen mit dem abzugleichen, was als „normal“ angenommen wird. Dass eben dies nur sehr schwer möglich ist, macht den Reiz des Buches aus. Die Grenzen verschwimmen, es werden keine borderlinespezifischen Schwierigkeiten mehr dargestellt, sondern Probleme von Menschen, die, wie es Anja schreibt, ihren Platz im Leben wieder eingenommen haben und die eben dadurch berühren, dass der Lesende sich mit seinen eigenen Erfahrungen wiederfinden kann.

Keine „normalen“ Alltagsgeschichten

Dennoch sind es keine „normalen“ Alltagsgeschichten, die eine beliebige Gruppe von Menschen hätte schreiben können. In den Erzählungen wird deutlich, dass Borderline Spuren bei den Autorinnen hinterlassen hat. Wenn in den Betroffenenberichten die Rede von „Omnipräsenz“ und „Dysfunktionalität“ ist, zeigt sich, dass die Sprache der Institution Psychiatrie zum selbstverständlichen Wissensbestandteil der Schreibenden geworden ist und eigene Formulierungen oft dahinter zurücktreten.

Insofern ist es schade, dass der Herausgeber nicht transparent macht, weshalb er die Fachdefinitionen über das Erfahrungswissen der Autorinnen stellt, indem er die medizinischen Kriterien jeweils den Einzeltexten voranstellt und damit Gesundung doch wieder vorrangig anhand der veränderten oder verschwundenen Symptome sichtbar zu machen versucht. Als „Mutmachbuch“, das klinische Studien bestätigt, beschreibt Andreas Knuf „Gesundung ist möglich!“ in seinem Vorwort.

Individuellen Darstellungen überzeugen

Mir hat die Sammlung von Erfahrungsberichten vor allem deshalb sehr gut gefallen, weil die einzelnen Geschichten durch ihre individuellen Darstellungen überzeugen, die vielfach auch sprachlich sehr gelungen sind. Das Buch wendet sich gleichermaßen an Betroffene, Angehörige und Fachleute. Auch diejeinigen sollten sich nicht entmutigen lassen, die auf ihrem persönlichen „Gesundungsweg“ erst am Anfang stehen.

Die Sammlung von Texten zeigt, alle Schreibenden haben ihren eigenen (oft langen) Weg finden müssen, und diese Wege sind sehr unterschiedlich. Es gibt nicht das Erwachsenwerden und das Beziehungenknüpfen, aber die Beschreibungen sind Ansatzpunkte, auf diesen Wegen kann Gesundung gelingen. Das Buch ist eine Möglichkeitensammlung; die Möglichkeit für den Lesenden besteht vor allem darin, dass er Vertrautes finden und Eigenes dazulegen kann.

Christiane Tilly in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024