Ewald Rahn, Autor verschiedener Bücher zur Borderline-Persönlichkeitsstörung, veröffentlicht sein aktuelles Buch zu diesem Thema in der Reihe PraxisWissen des Psychiatrie Verlags. Der Autor geht gleich zu Beginn des Buches auf den negativen Ruf ein, der Menschen mit Borderline-Störung auch heute noch häufig vorauseilt, und mahnt zu mehr Gelassenheit. Das Image stamme aus einer Zeit, in der es noch keine wirksamen Behandlungen gab. Betroffene hätten einen sehr hohen Leidensdruck, aber überwiegend auch eine hohe Motivation, ihre Lebenssituation zu verbessern und zu gesunden.
Nach diesen einleitenden Worten geht Ewald Rahn im Kapitel »Der Blick auf die Störung« sehr detailliert auf die Spannungsfelder ein, die sich im Verlauf der Beziehungsgestaltung zwischen Betroffenen und Profis auftun können. Dabei belässt er es nicht bei deren Beschreibung, sondern erläutert ausführlich ihre zugrunde liegenden störungsbedingten Ursachen. In diesem Kapitel finden sich zudem Ausführungen zu den Auswirkungen der Störung auf das Selbstbild des Helfers und zu den Einflüssen der Störung auf den Sozialraum. In diesem Zusammenhang sensibilisiert der Autor auch für den Konflikt zwischen der Förderung der Selbstverantwortung von Betroffenen und deren Bestreben, Verantwortung an das Helfersystem zu delegieren.
Wenn in diesem Spannungsfeld auch noch institutionelle Rahmenbedingungen (z.B. Akutstation, Eingliederungshilfemaßnahmen) hinzukommen, besteht nach Rahn die Gefahr, dass eine positive Entwicklung womöglich gefährdet ist, weil sich die Betroffenen nicht mit ihren eigenen Lebensvorstellungen und Möglichkeiten auseinandersetzen. Rahn kommt auf diese Problematik kurz zurück und schreibt, dass institutionelle Regeln und Absprachen immer wieder auf ihre therapeutische Sinnhaftigkeit überprüft werden müssten. Zu diesem Aspekt wären weitergehende Ausführungen, z.B. zur konzeptionellen Gestaltung von Einrichtungen, interessant gewesen.
Nach einem Kapitel zu Häufigkeit, Erscheinungsformen und Verlauf der Erkrankung erläutert der Autor störungsbedingte problematische Verhaltensmuster. Rahn räumt in diesem Abschnitt mit einigen Mythen auf. So weist er darauf hin, dass nicht alle Betroffenen sich selbst verletzen und dass dieses Verhaltensmuster zudem von vielen Betroffenen im Laufe der Zeit aufgegeben werde. Durch das schwierige Themenfeld »chronische Suizidalität« tastet sich der Autor mit viel Sensibilität. Er beschreibt das Dilemma der Helfenden, Suizidalität einerseits immer ernst zu nehmen und andererseits die Eigenverantwortung den Betroffenen nicht gänzlich abzusprechen.
Dabei wird auch die Belastung der Profis nicht unterschlagen, die mitunter in Teamkonflikten münden. Rahn zeigt aber auch hier eine ressourcenorientierte Haltung, der Begriff der Spaltung als Beschreibung für das Hervorrufen von Widersprüchen im Team hat aus seiner Sicht einen diskriminierenden Charakter, Vorgänge, die als solche betitelt werden, könnten als Herausforderung für das Team verstanden und als solche genutzt werden.
Das letzte Drittel des Buches befasst sich mit den wichtigsten Therapie- (DBT) und Trainingsangeboten (STEPPS) für Menschen mit Borderline-Störung. Dabei stellt Rahn die einzelnen Therapieformen nicht im Detail vor, sondern erörtert die verbindenden Elemente der Behandlungsansätze etwa in Bezug auf Stresstoleranz und Beziehungsmuster. Da sich der Autor an Evidenz orientiert, fällt der Abschnitt zur medikamentösen Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung erwartungsgemäß sehr knapp aus. Dauer- und Mehrfachbehandlungen mit hohen Psychopharmaka-Dosierungen seien nicht gerechtfertigt. Mit nur wenigen Seiten ist der Abschnitt zum Umgang mit den Partnern und der Familie der Betroffenen sehr kurz. Das Buch endet mit einem Überblick über verschiedene Behandlungs- und Betreuungssettings, im Anschluss findet sich eine Literaturübersicht.
»Menschen mit Borderline begleiten« muss man sich insbesondere im ersten Drittel erarbeiten. Die detaillierten Beschreibungen von Beziehungsmustern und den dahinterliegenden Schemata erfordern von den Lesern Konzentration. Ob sich das Buch als klassisches Einstiegsbuch in die Thematik eignet, ist deshalb zu hinterfragen. Profis mit Vorerfahrungen in der Arbeit mit Betroffenen profitieren sicherlich mehr, weil sie das Gelesene immer wieder mit den eigenen Erlebnissen abgleichen können. Die Merksätze mit Seitenverweisen auf dem aufwendig gestalteten Umschlag helfen dabei, die detaillierten Beschreibungen einzelner Beziehungsmuster und -fallen nachzuschlagen.
Das Verdienst von Rahn ist es, dass er das Vertrauen der Leser bzw. Profis in die eigene Arbeit mit den Betroffenen stärkt. Fehler in der Beziehungsgestaltung mit den Betroffenen dürfen und werden passieren, sind aber korrigierbar, solange sie erkannt werden und dies zur Veränderung führt.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024