»Psychose-Erfahrene helfen uns, die therapeutische Beziehung wieder zu erden: Nicht die besondere Technik, das spezielle Manual sind entscheidend, sondern die Qualität der Beziehung, unsere Fähigkeit als Therapeuten, authentisch und ehrlich, im Augenblick präsent und langfristig zuverlässig zu sein. Meine eigene Balance zwischen Macht und Ohnmacht, Nähe und Distanz, Halt und Autonomie ist entscheidend.« (S. Bock: 9)
Thomas Bock, Professor für klinische Psychologie und Sozialpsychiatrie und Mitbegründer der Psychose-Seminare, kann auf eine lange und innovative Praxis am Universitätskrankenhaus in Hamburg-Eppendorf zurückblicken. In dem vorliegenden Band der Reihe PraxisWissen stellt er psychotherapeutische Vorgehensweisen auf dem Fundament einer anthropologischen Sichtweise vor. Psychose-Seminare, Trialog, Peer-Arbeit und partizipative Forschung bilden wichtige Säulen der Begleitung.
Die verschiedenen Facetten der Psychose-Erfahrung werden erläutert und als existenzielle Lebenskrisen besonders sensibler Menschen verstanden. Grundlagenwissen und Theorien zur Praxis therapeutischen Vorgehens, wesentliche Bestandteile der Psychosen-Therapie und deren praktische Umsetzung werden vorgestellt. Das Schlusskapitel geht der Frage nach, inwieweit der vorgestellte Therapieansatz in der praktischen Arbeit umgesetzt werden kann. Am Schluss der jeweiligen Unterkapitel werden die zentralen Aussagen zusammengefasst.
Im ersten Kapitel »Jeder Mensch ist anders, eine Annäherung an Psychosen« wird die anthropologische Sichtweise erläutert. Thomas Bock übersetzt die medizinische Fachsprache des ICD-Diagnoseschlüssels auf der Grundlage der Diskussionen des Hamburger Psychose-Seminars überzeugend in eine Sprache des Erlebens.
Psychose wird als extreme Form des Eigensinns verstanden. Im zweiten und dritten Kapitel geht es um die psychotherapeutische Grundhaltung und die vielschichtige Begegnung mit Psychose-Erfahrenen, die im Folgenden konkretisiert wird. Die Suche nach der subjektiven Bedeutung von Psychose, ihrer Eigenheit und ihrem Sinn sowie das Bekenntnis zur eigenen Lebens- bzw. Krisenerfahrung sind die Säulen eines subjektorientierten und nach Authentizität strebenden therapeutischen Miteinanders.
Im Folgenden wird die vielschichtige Begegnung mit Psychosen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Genetische, somatische, psychische, religiöse, familiäre und soziale Ansätze werden als Erklärungsmodelle vorgestellt und schließlich zusammengeführt zu einem Modell, welches die Entwicklung und den Verlauf einer psychotischen Dekompensation darstellt.
Besonders fasziniert hat mich die Darstellung der Lebensläufe von Hildegard Wohlgemuth (1933–2003) und Dorothea Buck (1917–2019) – zwei Künstlerinnen, deren Psychose-Erfahrungen der Autor psychiatriegeschichtlich als bedeutsam einordnet.
Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit dialogischen Behandlungsprinzipien. Psychose-Seminare und trialogische Projekte werden beschrieben und der Forderung nach Krankheitseinsicht, Compliance und Psychoedukation entgegengesetzt. Wenn wir psychotischen Menschen mit Respekt begegnen, wirken wir dem Risiko der Selbststigmatisierung entgegen und fördern die Aneignung der Erfahrung, so die These.
Nachfolgend stellt Thomas Bock wesentliche Bestandteile der Therapie von Psychosen vor. Neue Konzepte bei Ersterkrankungen, private Netzwerke und Home Treatment als Hilfen vor Ort, Peer- und Genesungsbegleitung, die Einbeziehung von Familien, die Therapie mit Psychopharmaka als Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung und unterstütztes Wohnen und Arbeiten werden jeweils in Unterkapiteln behandelt. Auch die verschiedenen Schulen der Psychotherapie werden erläutert.
Last, not least wird die Vermeidung von Zwang und Gewalt als besondere Herausforderung thematisiert. Strukturelle und personelle Bedingungen zur Reduzierung von Zwang sowie Problemzonen der aktuellen Versorgungstruktur und -praxis werden benannt. Innere und äußere Bedrohung werden als Wechselbeziehung beschrieben.
Der therapeutische Zugang, den der Autor theoretisch und praxisnah mit Beispielen erläutert, nimmt Patientinnen und Patienten als Expertinnen und Experten ernst und stellt ihr Wissen in eigener Sache in den Vordergrund. Auf der Grundlage seines anthropologisch orientierten Krankheitsverständnisses begreift er die psychische Erkrankung nicht als defizitär. Neugier und Achtung gegenüber Menschen mit Psychose-Erfahrung können Wege eröffnen, mit einer Psychose zu leben. Das medizinische Modell soll erweitert und ein Stück weit relativiert werden.
»Wir sind unterwegs«. In der Schlussbemerkung verweist Thomas Bock auf den Umwandlungsprozess der Psychiatrie, von 1944 mit seiner Euthanasiepraxis bis 2014 mit der Psychosen-Therapie als Kassenleistung. Abschließend referiert er einige konkreten Erfahrungen mit psychisch erkrankten Menschen im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit. Leserinnen und Leser bekommen eine Idee davon, wie der Weg weiter fortgesetzt werden könnte.
Gut lesbar, informativ und innovativ. Dieses Buch enthält weder Lösungen noch Patentrezepte. Es gibt wichtige, wenn nicht sogar wegweisende Impulse für die eigene Arbeit, das Studium, aber auch für Menschen, die sich in einer schweren Krise befinden, und für Angehörige. Die gelungene Mischung aus Theorie und Beispielen aus der Praxis ist überzeugend.
Astrid Delkamp in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024