Traumatisch bedingte psychische Störungen haben Konjunktur, Traumatherapie ist "hip". Die Herausgeber des vorliegenden Buches - Seidler leitet die Sektion Psychotraumatologie der Psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg, Eckart ist dort Ordinarius für Medizingeschichte – fühlen sich allerdings nicht als Modemacher. Sie warnen vor einer "zu vorschnellen" Theorie- und damit Dogmenbildung, durch die die Chancen des noch jungen Fachs, "zu einem neuen Paradigma für die Psychosomatische Medizin" zu werden, verspielt werden können.
Das Buch stellt die Frage nach dem historischen Kontext in mehrfacher Weise: Warum entstand die Psychotraumatologie als Disziplin erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, obwohl die in ihr thematisierte Realität schon sehr alt ist? Und umgekehrt: Welche Auswirkungen hatte es zum Beispiel für die deutsche Nachkriegsgeschichte, "dass es - wahrscheinlich - Mitte 1945 eine Unzahl psychisch traumatisierter Menschen in Deutschland gab"? Selbstverständlich muss diese Frage auch gestellt werden für andere Epochen und Regionen, etwa den Dreißigjährigen Krieg.
"Sind Kulturen und einzelne kulturelle Phänomene vielleicht in einem viel stärkeren Ausmaß, als es manchem verträglich ist, dieses zu akzeptieren, mitunter auch als kollektive Bewältigungsformen individuell erlittener Gewalt verstehbar zu machen? Was sind die Transmissionsvorgänge zwischen individuellen Gewalterfahrungen und kulturell geronnenen Phänomenen?" Spannend sind die verschiedenen Beiträge zur Entstehung und Wandlung des Traumabegriffes in der Medizin, instruktiv, teilweise aber auch beschämend, was der emeritierte Göttinger Psychiatrie-Ordinarius Venzlaff zur Geschichte der Traumatherapie aus seiner eigenen Erinnerung zusammenträgt (z.B. dass eine unwissenschaftliche Polemik des NS-Reichsarbeitsministeriums 1953 in der Schriftenreihe des Bundesarbeitsministeriums wieder aufgelegt wurde).
Außerdem geht es um die Traumatisierung von Kindern in den Kriegen der Gegenwart und das Vergewaltigungstrauma und das Problem der Glaubwürdigkeit, aber auch um kollektive Reaktionen am Beispiel des 11. September sowie um Zusammenhänge von kollektivem Trauma und kollektiver Identität am Beispiel der Serben und des Serbenführers Milosevic. Kern der Psychotraumatologie ist für Seidler, dass ein einzelnes Ereignis einen Menschen zerstören, zumindest aber "wesentlich" verändern kann.
Damit ist ein fundamentaler Widerspruch formuliert zu herkömmlichen Konzepten überdauernder psychischer Strukturen; Seidler kritisiert aber auch die Psychoanalyse, obwohl diese die Psychotraumatologie wesentlich befördert hat; er wirft ihr vor, "dass im Rahmen eines herkömmlichen psychoanalytischen Ansatzes alles, was von außen auf das Subjekt einwirkt, unmittelbar in eine ihm unterstellte Wunsch- (oder Trieb- oder Antriebs-) Dynamik übersetzt wird", woraus die Frage nach dem "eigenen Anteil" am Geschehen folgt. Der Psychoanalytiker Seidler brandmarkt die Psychoanalyse als "Täterpsychologie par excellence", denn sie ignoriere, dass Menschen jenseits aller Psychodynamik bloßes Objekt anderer Menschen, aber auch Spielball von traumatisierenden Großereignissen sein können, "dass Menschen Widerfahrnissen ausgesetzt sind, die ob ihrer Ungeheuerlichkeit keine Repräsentanz im vorher bestehenden Wunschsystem aufweisen können".
Das Buch wirft eine Reihe von äußerst wichtigen und zum Teil brisanten Fragen auf, z.B. die nach den "Grenzen der Behandelbarkeit", die "in allen Bereichen der Medizin gern ausgeklammert" wird zugunsten einer "Illusion der All-Heilbarkeit". Diese "praktischen" Fragen stehen allerdings nicht im Zentrum des Buches. Schwerpunkt ist vielmehr, wie Kultur bzw. Gesellschaft (die Medizin als Teil davon) das individuelle Erleben von Traumatisierungen zur Kenntnis nimmt und bearbeitet. Einige Beiträge fallen hierbei sehr geisteswissenschaftlich-theoretisch aus ("Erwartungsangst und Schmerzgewissheit - Traumatische Aspekte im Werk von E. Jünger" und "Zur dissoziativen Intellektualität in der Nachkriegszeit”).
Gleichwohl ist das Buch als Propädeutik allen Psychotherapie-Praktikern dringend zu empfehlen, die sich an die Psychotraumatologie heranwagen wollen: damit Traumatherapie nicht zur Modeerscheinung verkommt! Schade nur, dass man entgegen allen üblichen Gepflogenheiten nichts über die Autoren erfährt.
Dirk K. Wolter in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024