Das Schicksal des Dichters Friedrich Hölderlin (1770–1843) hat schon viele Generationen beschäftigt und fasziniert. Dem zugrunde liegt die vermeintlich sehr prägnante Teilung der Biografie Hölderlins in eine intensive Schaffensperiode bis zum 36. Lebensjahr und eine gleich lange Zeit, die Hölderlin zunächst im Tübinger Klinikum, bald darauf bis zu seinem Tod bei der Familie Zimmer in einem Turm am Neckar verbrachte. Viele, und vor allem ältere Quellen bzw. Autoren, sprechen hier von einer langen Phase der »geistigen Umnachtung«.
Uwe Gonther und Jann E. Schlimme, beide Fachärzte für Psychiatrie, beschäftigen sich schon länger aus psychiatrischer Sicht mit der Person und dem Werk Hölderlins und haben dazu einschlägig publiziert. Zum 250. Geburtstag haben sie sich nun der zweiten Lebenshälfte des Dichters und explizit dem »Klischee vom umnachteten Genie im Turm« angenommen. Das ist mutig, denn die Quellen für diese Zeit sind ungleich rarer. Rüdiger Safranski widmet ihr in seiner aktuellen und umfassenden Hölderlin-Biografie zwei der siebzehn Kapitel. Gonther und Schlimme versuchen, dem mit akribischer Detailarbeit zu begegnen und analysieren im Sinne einer Fremdanamnese die Aussagen von Wegbegleitern Hölderlins und seiner Ärzte, aber auch »eigenanamnestische Aussagen« Hölderlins in seinen späteren Gedichten und Briefen.
Dazu bedarf es aus Sicht der Autoren immer wieder der Klarstellung, dass eine psychiatrische Einschätzung nur aus heutiger Sicht erfolgen kann und man damit wiederum Hölderlin nur eingeschränkt gerecht wird. Diese Prämisse ist richtig, resultiert aber in einer nicht immer gelungenen Gratwanderung zwischen der Argumentation gegen psychiatrische Klischees und Fehleinschätzungen und der eigenen Deutung. Dieser Eindruck mag auch der Gestaltung seitens des Verlags geschuldet sein. Der Klappentext verspricht eine Befragung der Quellen, um das Leben Hölderlins in der Turmzeit zu verstehen, »anstatt sie psychopathologisch zu deuten“. Nichts anderes machen aber die Autoren im Text. Und das ist auch richtig so, weil man anders dem altertümlichen Begriff der »Umnachtung« kaum beikäme.
Auch das die »Entpsychiatrisierung Hölderlins [...] keine Gutwilligkeit durch uns Autoren« sei, gehört zu dieser Gratwanderung, weil sie wenige Seiten später die Psychoseerfahrung des Dichters bejahen. Alles andere wäre auch bei der im Buch beschriebenen Quellenlage ein Euphemismus, der auch Hölderlin posthum nicht helfen würde.
Dabei ist Psychiatriekritik im Falle Hölderlins wichtig und richtig, was auch an anderen Stellen der Abhandlung deutlich wird. Anhand der Quellen gelingt den Autoren eindrücklich ein Bild der psychiatrischen Behandlung Hölderlins und ihrer Folgen. Heilsam schien diese kaum gewesen zu sein, eher traumatisierend. Umso erstaunlicher, welchen Verlauf das Leben des Dichters nahm, nachdem er 1807 zur Familie Zimmer gekommen war und dort eine Umgebung fand, in der er sein konnte, wie er war. Mal belasteter, mal ruhig, dennoch selbstbestimmt im Rahmen seiner Möglichkeiten. Dies schildert aus heutiger Sicht idealtypisch betreutes Wohnen in Familien. Denn trotz wiederholter Phasen der Erregung, die im Buch mit Quellen belegt werden, kam es nie zur heute nicht seltenen Krisenintervention in einer Klinik. Hölderlin schien eine resilienzfördernde Umgebung gefunden zu haben, die ihn akzeptierte und auch mal aushalten konnte.
Letzteres unterstreichen auch Gonther und Schlimme in der letzten These ihres Fazits. Dies illustriert vielmehr den Wert des Buches als das Abarbeiten an der Begrifflichkeit der Umnachtung. Wer sich – Vorkenntnisse zu Hölderlins Biografie und Werk sind angesichts des knappen Umfangs von ein bisschen mehr als hundert Seiten vorauszusetzen – intensiver mit der zweiten Lebenshälfte des Dichters auseinandersetzen möchte, findet in dem Buch von Gonther und Schlimme wichtige Anregungen.
Dr. Raoul Borbé in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024