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Psychiatrie Verlag

Bildnerei der Geisteskranken - Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung

Mehr als 5.000 Werke psychisch Kranker hatte der Arzt, Psychologe, Philosoph und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn während seiner Tätigkeit in der Heidelberger Klinik in den Jahren 1919 bis 1921 gesammelt.

Die Großen der "klassischen Moderne"

Als dann im Jahre 1922 sein Buch "Bildnerei der Geisteskranken" in erster Auflage erschien, waren es vor allem diejenigen, die man heute die Großen der "klassischen Moderne" nennt, die vom ästhetischen Gehalt der in diesem Buch vorgestellten Bilder, Reliefs und Skulpturen fasziniert waren: Paul Klee, Max Ernst, Pablo Picasso und viele andere bedeutende Künstler vernahmen hinter den Anstaltsmauern das Echo ihrer ästhetisch motivierten Abkehr von konventionellen Sehgewohnheiten. Prinzhorn beabsichtigte mit diesem Buch der Gestaltpsychologie das Grenzgebiet der Kunst psychisch Kranker zu erschließen.

Doch eigentlich hatte er, wie er einleitend ankündigt, ein viel höheres Ziel vor Augen, nämlich die Vorarbeit für eine ästhetische Theorie, deren Ausarbeitung er sich von einer zukünftigen Metaphysik erhoffte. Das Hinauswachsen der Deutung von künstlerischen Arbeiten psychisch Kranker über den gestaltpsychologischen und psychopathologischen Rahmen skizziert Prinzhorn am Anfang des Buches in einem kurz gehaltenen theoretischen Teil. Die daran anschließende Besprechung der über 180 Werke von Psychiatriepatienten führt die LeserInnen außerordentlich lehr- und kenntnisreich in die Zusammenhänge von seelischem Leiden und ästhetischem Gestaltungsvermögen ein.

Terrain erschlossen

Es wird ein Terrain erschlossen, das ahnen lässt, mit welcher Erschütterung einst die "klassischen Modernen" das Echo ihrer Kunst in den Produkten psychotischen Erlebens vernahmen. Angefangen von der Besprechung objektfreier, ungeordneter Kritzeleien über spielerische Zeichnungen mit abstrakten Ordnungstendenzen, Zeichnungen mit Abbildtendenz bis hin zu Werken, die Prinzhorn als "anschauliche Phantastik" bzw. "sichere Darstellung von Halluzinationen" bezeichnet und solchen "gesteigerter Bedeutsamkeit und Symbolik" entfaltet er ein systematisches Spektrum künstlerischer Kreativität.

Die Werke stammen fast ausnahmslos von Menschen, die weder geübt noch anderweitig mit Kunst vertraut waren. Im Fokus der Interpretationen stehen "Zehn Lebensläufe schizophrener Bildner", wie die zunächst ein wenig irreleitende Überschrift des zentralen Kapitels lautet, kommt es Prinzhorn doch nicht auf die Lebensläufe und Krankheitsgeschichten an, die den Werkbesprechungen vorangestellt werden. Er nennt diese Patienten die "zehn schizophrenen Meister", was keinesfalls metaphorisch gemeint ist, denn er wird nicht müde, darauf hinzuweisen, inwiefern deren Werke sich bis zum nicht mehr auszumachenden Unterschied großen Kunstwerken nähern. Man erfährt, dass nur zwei von ihnen sich bereits vor dem Ausbruch der Psychose künstlerisch betätigt hatten. Die anderen waren ungeübt, weshalb natürlich die das ganze Buch durchziehende Frage, weshalb eigentlich künstlerisch völlig unerfahrene psychisch Kranke eine derart ästhetisch hochrangige Kreativität zu entfalten vermögen, umso brennender sich stellt.

Nicht empirisch zu begründen und also spekulativ

Hinzu kommt, wie Prinzhorn versichert, dass die ästhetische Gestaltungskraft oft noch zunahm, wenn die Patienten sich im Zustand "des fortschreitenden Verfalls der Persönlichkeit" befanden. Weder in den Werkbesprechungen noch in dem mit "Ergebnisse und Probleme" überschriebenen Schlussteil seines Buchs gibt Prinzhorn eine überzeugende Antwort auf diese Frage. Freimütig räumt er ein, dass seine Annahme, die Psychose vermöge ein von zivilisatorischen Einflüssen verschüttetes Schaffenspotenzial freizusetzen, nicht empirisch zu begründen und also spekulativ sei. Aber er hoffte, dass dieser undurchsichtige spekulative Kern seiner Kunstbetrachtungen einst von der Philosophie ausgeleuchtet werde.

Es sei dahingestellt, ob man seine hohen Erwartungen an die Philosophie mit ihm teilen will. Prinzhorns Anleihen bei Ludwig Klages, dessen bedeutungslos gewordene Metaphysik vor allem die zivilisationsüberdrüssigen Geister seiner Zeit interessierte, gibt allen Anlass zum Zweifel. Nicht hoch genug zu veranschlagen ist dagegen Prinzhorns Grundhaltung zur Kunst der psychisch Kranken: sein ästhetisches Urteilsvermögen, das sich ausschließlich an der "Gestaltungskraft des Urhebers" als dem allein in Betracht kommenden Wertmaßstab der Werke orientiert.

Einfühlsame und gelehrte Hand

Mit welch einfühlsamer und gelehrter Hand er diesen Maßstab anzulegen weiß, davon mögen sich die LeserInnen mit Aussicht auf den größten Gewinn für die eigene ästhetische Urteilsbildung selbst überzeugen. Worauf es ihm dabei eigentlich ankam, sei kurz mit seinen eigenen Worten gesagt. Da heißt es am Ende der Besprechung eines "Würgengel" genannten Bildes: "(...) wenn dieser Würgengel nur schizophrenem Weltgefühl entspringen konnte, so ist kein kultivierter Mensch mehr imstande, schizophrene Veränderungen lediglich als Entartung durch Krankheit aufzufassen. Man muss sich vielmehr endgültig entschließen, mit einer produktiven Komponente ein für allemal zu rechnen und allein in dem Niveau der Gestaltung einen Wertmaßstab für Leistungen zu suchen - auch bei Schizophrenen."

Prinzhorn starb 1933 in München. Das Buch und die Sammlung wurde nur wenige Jahre später in Deutschland von unberufenster Seite missbraucht, um Werke der ästhetischen Moderne, psychisch Kranker und geistig Behinderter in den nationalsozialistischen Propaganda-Ausstellungen als "entarteter Kunst" zu verunglimpfen. Heute, da in Deutschland nicht nur die Anstaltsmauern, sondern die inhumane Verwahrpsychiatrie der Vergangenheit angehört, ist das dank Prinzhorn geortete ästhetische Echo der leidenden Psyche deutlicher denn je zu vernehmen. Kunsttherapie, Ausstellungen und Galerien sind zu vertrauten Bestandteilen der Sozialpsychiatrie und Selbsthilfeinitiativen geworden.

Prinzhorn, dessen psychiatrische Ansichten und Terminologie nicht mehr zeitgemäß sind und dessen philosophisches Denken, soweit er es in seinem Buch bekundet, manchen berechtigten Zweifel weckt, wird einer der ganz großen Ideengeber des hoffentlich noch wachsenden Interesses an der Kunst psychisch Kranker bleiben. Dem Springer-Verlag/Wien gebührt dankende Anerkennung dafür, dass die "Bildnerei der Geisteskranken" in ansprechend gebundener Ausgabe mit 187 Abbildungen (davon leider nur 16 farbig) nunmehr zum sechsten und mit Sicherheit nicht zum letzten Mal aufgelegt worden ist.

Dr. Karl Erb in Sozialpsychiatrische Informationen

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024