Ein ungewöhnliches und unzeitgemäßes Buch, auf das hier hinzuweisen lohnt. Wolfgang Werner, Psychiater und Germanist, bekannt als langjähriger Ärztlicher Direktor des saarländischen Landeskrankenhauses Merzig, das er im Verlauf von mehr als 20 Jahren in Psychiatrische Abteilungen und Gemeindpsychiatrische Dienste umgewandelt hat, lädt seine Leser auf eine Reise zu Kunst und Literatur durch seine Heimat, das ist die europäische Großregion den Saar(land) – Lor(raine) – Lux(emburg), ein.
Seine erwanderten Erkundungen zielen auf die Vermittlung eines humaneren Zugangs zur Psychiatrie oder besser zum Menschen als einzigartigem Individuum. Seine Zeugen aus Kunst und Literatur helfen dabei, das Abnorme, das Anders-Sein aus dem sozialen Abseits zurück in die Gemeinschaft zu holen. Sie unterstreichen mit ihren Bildern, ihrer Prosa und ihren Gedichten die Forderung nach Gerechtigkeit, Respekt und Barmherzigkeit gegenüber den einsamen, verstörten, gequälten und abwegigen Menschen, gegenüber denen, die wir gemeinhin als psychisch krank bezeichnen.
Sensibel und liebevoll gelingt es ihm, uns mit bedeutenden Malern der Region wie Claude Le Lorrain, dem großen "Maler des Lichtes" oder Georges de la Tour und seiner ergreifenden Gestaltung des Hiob bekannt zu machen. Anregungen, die der Leser aufnehmen sollte, nicht nur wegen der mäßigen Qualität der Abbildungen, die Orginale einmal vor Ort zu besuchen.
Auch seine literarischen Gewährsleute, die den Leser auf den acht Etappen des Buches, die an typischen psychiatrischen Krankheitsbildern orientiert sind, begleiten, sind sorgfältig und kenntnisreich gewählt. Mit Georg Büchner zeigt er uns auf der dritten Etappe seiner Reise die Wirrungen und das Elend des jungen schizophrenen Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz bei seinem Weg "durch das Gebirg", nicht ohne den Hinweis auf die Freiheit des Schwachen, sich auf der Suche nach einer Alternative von Ort zu Ort zu bewegen. Aber Werner unterschlägt auch nicht das "Ausgeliefertsein, das Nicht-mehr-Verfügen-Können über die Welt" und das Ende von Büchners Lenz: "... er tat Alles wie es die anderen tahten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin."
Mit Robert Walser, jenem großen Schweizer Schriftsteller, der die letzten Jahrzehnte seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbrachte, erschließt er dem Leser die Bereicherungen durch »den Spaziergang«, durch das Wandern, eine für Werner überhaupt bedeutsame Form der mobilen Wahrnehmung, Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt. Eine, wie er anschaulich beschreibt, auch gemeinsam mit Patienten förderliche Aktivität. Die mit eigenen Erfahrungen grundierten Etappen "Abschied nehmen und Trauern" und nach Épinal an der Mosel mit dem Besuch bei Rembrandts "Mater dolorosa" im dortigen Museum zum Thema "Depression und Schmerz" sind besonders eindringlich und berührend gelungen.
Werners "Lese- und Lernbuch", wie er es bezeichnet, ist ungewöhnlich, da es als "Lernbuch" auf operationalisierbare Wissensinhalte, Neurobiologie und ICD-konforme diagnostische Einordnung der beschriebenen Störungsbilder verzichtet. Es ist unzeitgemäß, da es in unserer, durch eine immer rasantere Beschleunigung gekennzeichneten Zeit vom Leser die Bereitschaft zu einer langsamen und sorgsamen Annäherung an die Thematik erfordert. Aber die für psychiatrisch Tätige unabdingbare Geduld wird auch bei der Lektüre dieses Buches belohnt.
In Anlehnung an jenes berühmte Zitat von Herman Hesse über die Schriften Robert Walsers "Wenn er hunderttausend Leser hätte, wäre die Welt besser", kann man am Ende sagen: Wenn Wolfgang Werners "Kunstreise durch die Psychiatrie" als "Lernbuch" in den psychiatrischen Unterricht eingeführt würde, wäre es um die Qualität der Betreuung psychisch kranker Menschen besser bestellt.
Helmut Haselbeck in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024