Was macht Ilse Eichenbrenner eigentlich, wenn sie sich nicht gerade auf einer Psychiatrie-Tagung, einem pompösen Filmfestival, bei einem Underground-Kino-Marathon oder einer Redaktionssitzung der "Sozialen Psychiatrie" herumtreibt? Sie gibt z.B. sozialpsychiatrische Lehrveranstaltungen und schreibt Beiträge, (Film-)Rezensionen und Bücher zum Thema.
Mit dem vorliegenden Werk bereichert sie gemeinsam mit ihrem versierten Kopiloten Jens Clausen die (Sozial-)Psychiatrieszene ein weiteres Mal, diesmal mit der komplett überarbeiteten Neuauflage ihres schnörkellos betitelten Standardwerkes "Soziale Psychiatrie". Darin wird die umfassende Quintessenz rund ums psychosoziale Verrücktsein aktuell und anschaulich aufbereitet. Sympathischerweise kommt diese Schrift gänzlich ohne schwülstige Pseudointellektualitäten daher und wartet mit lesefreundlichem Klartext auf. In das Werk hineingesogen lese, rieche und fühle ich regelrecht die jahrzehntelange Praxiserfahrung und die Leidenschaft der Autoren für die Thematik. Diese Begeisterung fixt mich als Leser an.
Das Buch erweitert sowohl für Studierende der (Klinischen) Sozialen Arbeit und sich orientierende Berufsanfänger als auch mitunter für manch langjährigen "Sozialpsycho" den Szene-Horizont. Wer sich für dieses spannende, zutiefst menschliche und herausfordernde, in einem seit der Psychiatrie-Enquete 1975 in seiner Komplexität zunehmend ausdifferenziertem Arbeitsfeld begeistert – oder auch für seine Qualifikationsarbeit oder Dissertation nach einschlägigen Zitationsquellen sucht – der findet hier alle wissenswerten Basics übersichtlich zusammengefasst.
Bei diesem tollen Fundus kann man somit beherzt zugreifen. Die Darstellungen von Clausen und Eichenbrenner bilden weiter, klären auf, schließen mitunter Wissenslücken und bringen pragmatisch und anschaulich das Wesentliche auf den Punkt. Inhaltlich werden diverse relevante Grundlagen sowie psychische Störungsbilder verständlich erläutert und Zielgruppen treffend dargestellt – darunter z.B. auch suchtkranke oder wohnungslose Menschen. Zusätzlich werden die vielseitigen sowohl niedrig- als auch hochschwelligen sozialpsychiatrischen Hilfeformen in den Handlungsfeldern übersichtlich ausdifferenziert. Dadurch wird dem Leser auf leicht verständliche Weise ein Eindruck von der Komplexität der Sozialpsychiatrie und ihrer einzelnen Bausteine vermittelt.
Ansprechend werden zudem historische Entwicklungen der Sozialpsychiatrie nachvollzogen. Kurz, knackig und ohne langweilige Durststrecken kann dieses komprimierte Epos hier in einem Rutsch aufgesaugt werden wie ein spannendes Geschichtsbuch. Dabei werden auch die finstersten Epochen wie die Massenvernichtung psychisch erkrankter Menschen im Nationalsozialismus sowie die ersten Erklärungsversuche von psychischen Erkrankungen im Mittelalter unzensiert in ihrer erahnten Grausamkeit nachgezeichnet. "Folglich konnte es sich [im Mittelalter, Anm.] bei psychischen Veränderungen nur um Formen der Besessenheit handeln: Ein Dämon sei in den Wahnsinnigen gefahren und treibe dort sein Unwesen. […] Manche glaubten, den Schädel öffnen und bestimmte Hirnregionen chirurgisch behandeln oder gar Steine des Wahnsinns aus dem Hirn herausschneiden zu müssen" (S. 15).
Neben diesen barbarischen, mitunter schockierenden, aber auch unterhaltsamen Darstellungen wird zusätzlich der augenzwinkernde und humorvolle Charakter der Autoren deutlich, beispielsweise indem sie im Folgesatz anschließen: "Es lässt sich unschwer denken, dass der Operierte nach einem solchen Eingriff tatsächlich sehr verändert war" (ebd.)! Die Haltung von Autorin und Autor ist durchweg wertschätzend, aufklärend, kritisch, trialogisch orientiert und für das Thema begeisternd. Hier geben zwei Experten nach jahrzehntelanger Praxiserfahrung in verschiedenen Feldern der Sozialpsychiatrie einen Teil ihrer fundierten Erfahrung anschaulich an interessierte Leserinnen und Leser weiter.
Es hat mir Spaß gemacht, dieses Buch zu lesen. Man schlägt es irgendwo auf, liest drauflos, zitiert bei Bedarf und hat ein kompetentes Nachschlagewerk im Regal stehen, auf das man immer wieder zurückgreifen kann. Eine Kaufempfehlung wird klar ausgesprochen, insbesondere für Studenten und Berufsanfänger, aber auch für langjährig tätige Praktikerinnen und Praktiker, die ihr Wissen vertiefen und sich über ihren eigenen beruflichen Mikrokosmos hinaus zum Thema weiterbilden möchten.
Christian Brück in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024