Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
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Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Akutpsychiatrie neu gedacht

Die Akutpsychiatrie ist in den letzten Jahren – häufig als Hintergrundrauschen und ohne expliziten Bezug, vermittelt über Themen wie Vermeidung von Zwangsmaßnahmen, Systemprüfer oder ethische Fragestellungen – zunehmend Inhalt von Fachbüchern. Parallel erschienen Werke, die innovative Konzepte wie Recovery, Genesungsbegleitung oder bedürfnisangepasste Behandlung thematisierten. Das »Praxishandbuch Akutpsychiatrie« schlägt nun die Brücke und verbindet beide Themenstränge. Ausgangspunkt sind Überlegungen, wie sich die Akutpsychiatrie im Sinne der Patientinnen und Patienten verbessern ließe. Von den drei Herausgebern gehören zwei zu den Architektinnen des »Weddinger Modells«, das innovative Ansätze vereint, die sich aber nicht auf die Akutpsychiatrie beschränken. Als Autorinnen und Autoren konnten vor allem Mitarbeitende aus Berliner und Schweizer Kliniken gewonnen werden.

Alle Kapitel annoncieren eine professionelle Grundhaltung, die einem partizipativen und recoveryorientierten Ansatz folgt. Diese Schwerpunktsetzung lässt bereits erahnen, dass sich dieses Praxishandbuch von anderen Werken zur Akutpsychiatrie grundlegend unterscheidet. Wer nach einem Buch mit Hinweisen zur pharmakologischen Behandlung akutpsychiatrischer »Fälle« sucht, wird hier nicht fündig. Der große Mehrwert liegt in den unterschiedlichen Perspektiven, die die zahlreichen Autorinnen und Autoren einnehmen, darunter sind Betroffene, Angehörige und Profis vertreten.

Im ersten Drittel des Buches geht es vor allem um Haltungsfragen. Gwen Schulz plädiert hier z.B. mit ihrer unverwechselbaren Sprache für mehr Mut aufseiten der Profis zu Authentizität ohne zu starre Grenzziehungen gegenüber den Patientinnen und Patienten sowie für mehr Offenheit dafür, diesen etwas zuzumuten.

Im zweiten Drittel geht es um strukturelle Aspekte der Akutpsychiatrie. Die Sprache wird konkreter, Schaubilder und Tabellen fassen Informationen zusammen. So beschreibt ein Kapitel die Einführung der stationsäquivalenten Behandlung (StäB), nennt Fallstricke, gibt Tipps und bietet interessantes Zahlenmaterial u.a. zu der Frage, wie sehr StäB stationsersetzend oder stationsverkürzend wirkt. Ähnlich praxisnahe Schilderungen finden sich in vielen weiteren Kapiteln. Dabei werden auch aktuell drängende Probleme aufgegriffen, wie die Personalbindung auf Akutstationen. Martin Bührig stellt das Basismodell von Wienberg und Steinhart sowie die gemeindepsychiatrischen Versorgungsstrukturen im Bremer Westen vor und wagt damit einen kurzen Blick über die SGB-V-Versorgungstruktur hinaus.

Besonders bemerkenswert sind die vielen klinisch tätigen Berufsgruppen, die jeweils aus ihrer Perspektive schildern, wie sie die oben skizzierte Grundhaltung vermitteln und im Praxisalltag leben. Aus pflegerischer Sicht wird detailliert und praxisnah die Milieugestaltung auf einer Akutstation beschrieben, weitere Therapieangebote werden konsequent vor dem Hintergrund der spezifischen akutpsychiatrischen Heraus- und Anforderungen thematisiert. Im Kapitel zum Peersupport weist die Autorin darauf hin, dass Genesungsbegleitende nicht an Zwangsmaßnahmen beteiligt sein sollten. Donata Rigg schildert in ihrem Text zu Angehörigen-Peers die vielfältigen Belastungen, die Angehörige insbesondere bei Patienten der Akutpsychiatrie erleben, aber auch ihre wichtige Rolle für eine gute und gelingende Behandlung.

An anderer Stelle wird die Wichtigkeit einer Einbindung des Sozialdienstes in das therapeutische Team betont. Mitunter nehmen psychotische Patienten, die gegenüber den therapeutischen Mitarbeitenden eher misstrauisch sind, die Unterstützung des Sozialdienstes an. Dessen räumliche Integration direkt in die Akutstation ist dann auch die logische Konsequenz dieser Erfahrungen.

Das letzte Drittel des Buches befasst sich mit neuen Konzepten, dem »Offenen Dialog« oder der Behandlungsvereinbarung und Patientenverfügung, die gar nicht so ganz neu sind. Die Kapitel bieten aber mit ihrem Bezug zur Akutpsychiatrie und den Hinweisen zur praktischen Umsetzung wertvolle Informationen.

Inhaltlich ist das »Praxishandbuch Akutpsychiatrie« neuartig und gibt viele Anregungen. Es geht um Strukturen und Innovationen in der klinischen Akutversorgung sowie um deren praktische Umsetzung. Es geht aber auch um ein den Patientinnen und Patienten zugewandtes professionelles Grundverständnis und nicht um eine psychopharmakologische Notfallmedizin. Aus Sicht des Rezensenten zeigt sich eine Leerstelle. Die Berücksichtigung der außerklinischen gemeindepsychiatrischen Angebote bleibt im Rahmen der Vorstellung der Basismodelle schematisch. Hier hätte ein Kapitel zur Kooperation mit Leistungserbringern der Eingliederungshilfe und zum außerklinischen Alltag der Patientinnen und Patienten den Blick über StäB hinaus weiten können.

Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 01.11.2024