Der heute 76-jährige französische Neurologe und Psychiater Boris Cyrulnik, einer der führenden Resilienzforscher weltweit, war fünf Jahre alt, als seine Mutter ihn im Jugendamt abgab. Am Tag darauf, im Morgengrauen, hat man sie verhaftet. Sein Vater hatte sich bereits bei der Fremdenlegion gemeldet. "Nicht die geringste Erinnerung. Mein Gedächtnis setzt erst wieder ein, als Margot mich holen kam." Boris Cyrulnik sorgte dafür, dass Margot Farges, seine Pflegemutter, 1997 die Medaille "Gerechte unter den Völkern" der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem verliehen bekam, wodurch auch seine Geschichte öffentlich wurde. Seine Eltern wird er nie wiedersehen.
Eindrucksvoll und mit enormer Dichte mäandert sich Boris Cyrulnik durch seine traumatischen Kindheitserlebnisse. In der Synagoge in Bordeaux sind 1944 die Juden zur Deportation zusammengetrieben worden und er mit ihnen. Er zwängt sich ein in die Toilette der Synagoge – mit dem Rücken an eine Wand gepresst und mit den Beinen an der anderen abgestützt – und bleibt auf diese Weise unentdeckt. Der hereinkommende Soldat sieht nicht nach oben, Boris Cyrulnik kann die Synagoge unentdeckt verlassen. In seiner Erinnerung schlüpft er draußen in einem Krankentransport unter die Matratze einer Sterbenden. Nach Jahren (als sich die Enkelin der Sterbenden meldet) wird er erfahren, dass diese überlebt hat.
Wie bleibt ein Kind resilient gegenüber diesen fragmentarischen Plötzlichkeiten und unverständlichen Zusammenhängen? Boris Cyrulnik hat den mutigen Versuch unternommen, die Verbindungen und den Wahrheitsgehalt seiner Erinnerungsszenen zu suchen. Bei seinen Recherchen musste er erfahren, dass viele seiner Gedächtnisbilder nicht mit dem tatsächlichen Geschehen übereinstimmten und er sich zusammenhängende Gedächtnisinhalte konstruiert hat.
Er erzählt nicht von faktischen Wahrheiten, sondern von seinen eigenen subjektiven Wahrheiten, an die er sich erinnert. Die subjektiven Wahrheiten formen unsere "Schimäre" des Selbst. Die im Gedächtnis abgespeicherten Bilder und Erinnerungen müssen für wahr gehalten werden, aber erst "die Anordnung und Zurechtlegung der Erinnerungen machen sie allerdings erträglich". "Dank dieser Manipulation wurde ich kein Gefangener der Vergangenheit und entging der Traumatisierung."
Seine These ist, dass sich in einem "gesunden Gedächtnis" eine kohärente Vorstellung des Ich und unseres Selbst herausbilden kann, während in einem "traumatischen Gedächtnis" Risse unerklärt bleiben. Das Trauma schreibt sich im Gedächtnis fest und lässt es so erstarren. Wenn dann der akute Riss auf eine bereits vorhandene Verletzung trifft, geht das über unsere Kräfte, wir leiden und sind verstört, weil wir in einem permanenten Alarmzustand leben. Voraussetzungen dafür, um sich die Erinnerungen an ein Trauma zum eigenen Vorteil zurechtzulegen, auch auf die Gefahr hin, dass man sich selbst täuscht, sind "Sprachfähigkeit und ein sicherer Bindungsstil". Gerade die positiv erlebte Bindung an seine Mutter ermöglichte ihm seiner Ansicht nach, die Hilfe von vielen Personen anzunehmen, die so zu einem Teil seiner Geschichte werden konnten und in ihrer Gesamtheit eine Bindungsfigur ergaben.
Ebenso unerlässlich ist die bereits erworbene Sprachfähigkeit, um die Gefühle und Emotionen regulieren zu können. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen stellt er fest, dass Sprache die Vorstellung verändern kann, wodurch Fakten anders empfunden werden, als sie vielleicht in der Realität waren. Boris Cyrulnik verurteilte sich zum Schweigen und nahm an, dass sich sein Trauma mit den umgestalteten Erinnerungen damit erledigt hat. Die Tatsache, dem Tod entronnen zu sein, war ihm schon der geglaubte Sieg, und sein Schweigen ließ auch die Menschen glauben, er habe den Krieg unbeschadet überstanden.
Nach dem überstandenen Trauma, als sich alle Welt freut, dass der Krieg zu Ende ist, will keiner an die Schrecknisse erinnert werden, und da sich die Frage stellt, in welcher Sprache diese Erfahrung den Mitmenschen mitgeteilt werden soll, schweigt er. Das numinose Erlebnis, "den Tod besiegt" und andere überlebt zu haben, verursacht Scham und Schuld und verhindert, diese die Grundfesten erschütternden Lebensereignisse anderen mitzuteilen. Erst später kann er erkennen, dass "diese enorme Leugnung am Grund unserer Seele eine Krypta (hat) entstehen lassen, in der die Phantome murmeln". "Wer schweigt, ist geschützt, unverwundbar. Alle seelisch Verletzten empfinden Schweigen als Schutz. Sie brauchen lange, um zu entdecken, dass diese legitime Strategie ihre menschlichen Beziehungen auf eine ganz eigenartige Weise verändert."
Erst als seine Umgebung sich mehr und mehr dem Thema des Holocaust annähert (es findet der Prozess gegen den Kollaborateur Maurice Papon statt, der die Deportation der Juden in Bordeaux veranlasste), stellt Cyrulnik sich öffentlich seiner Geschichte, wird aber als einer der wenigen Überlebenden der damaligen Deportationen nicht als Zeuge zum Prozess geladen. Dies ist nur ein weiteres Merkmal der Unmöglichkeit, neben Scham und Schuld, sich mit seinem Trauma in Beziehung zu setzen.
Nicht nur die Öffentlichkeit war nicht bereit zuzuhören, auch engste Freunde wunderten sich, dass er nie darüber zu ihnen gesprochen hat. "Ich habe gesagt: Ich habe das erzählt, ihr wollt es nur nicht hören." Boris Cyrulnik wollte sich mit diesem Buch als Subjekt zum Objekt seiner eigenen Forschung machen. Er nimmt uns mit auf diese Reise in seine Vergangenheit. Selbst wohlwollende Freunde verlieren in der Verkettung der Ereignisse die Übersicht, erst recht ist auch für den Leser "die Wirklichkeit des Krieges zusammenhanglos".
Wie Imre Kertész in seinem "Roman eines Schicksallosen" die Brille des Kindes aufsetzt – ohne Deutungshoheit, ohne das geschichtliche Wissen, das die Vergangenheit bewertet –, so erzählt Boris Cyrulnik auch bewusst kein kohärentes Bild der Zeit während des Krieges. Schilderungen von angstbesetzten Szenen und Todesnähe wechseln ab mit Sätzen wie "Diese Zeit mitten im Krieg ist mir als ein Leben voller Sonne, Freundlichkeit und vollkommener Freiheit in Erinnerung geblieben". Ganz so, wie es sich im Erleben eines Kindes abgespielt haben mag.
"Rette dich, das Leben ruft!" ist eine zeitgeschichtliche Biografie, eine „Collage“ aus Schreckensbildern, von denen jedes einzelne traumatisierend wirkt. Wie auch seinen engsten persönlichen Freunden der objektive Forschungsblick abhandenkommt, so bleibt auch dem Leser eine nachträgliche Verstörung nicht erspart.
Regina Sattelmayer in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024