In der Berliner Tiergartenstraße wird seit dem Jahr 2007 jeden ersten Samstag im September der Menschen gedacht, die in der Zeit des Nationalsozialismus Opfer von Patientenmord und Zwangssterilisation wurden (s. S. ###). Schnell wurde das Gedenken an jenem Ort, an dem die Verbrechen an geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen als »Aktion T4« geplant wurden, um ein Rahmenprogramm mit Vorträgen erweitert. Seitdem werden die historischen Hintergründe beleuchtet und gefragt, welche Lehren man daraus heute für die psychiatrische Behandlung und den Umgang mit psychisch erkrankten Menschen ziehen kann, damit sich die Verbrechen niemals wiederholen.
Das nun von den im »Kontaktgespräch Psychiatrie« vereinten Verbänden und der Bremer Irrturm-Zeitungsinitiative Psychiatrieerfahrener herausgegebene Buch »Gegen das Vergessen – Mit der Geschichte lernen« versammelt Vorträge, die im Rahmenprogramm der Gedenkveranstaltungen in den Jahren 2008 bis 2014 gehalten wurden. Hinzu kommen Beiträge und Gedichte von Betroffenen.
Die Aufteilung folgt dabei der Struktur der Veranstaltungen: Der erste Teil widmet sich dem Erinnern: von der Zwangssterilisation bis zur Ermordung. Hier erhält der Leser eine Übersicht über den aktuellen Stand der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu den Verbrechen des sogenannten »Euthanasie«-Programms, das etwa 300.000 Menschen das Leben kostete (Dr. Annette Hinz-Wessels) und der Rolle der Ärzteschaft dabei (Prof. Hans-Walter Schmuhl). Spannend sind auch jene Artikel, die den ideologischen Kontext der Zeit erklären – wie den Einfluss, den der Erste Weltkrieg als »Katalysator« für die Diskurse über Eugenik und Rassenhygiene im durch Krisen tief verunsicherten Bürgertum Deutschlands hatte (Dr. med. Susanne Doetz).
Im zweiten Teil geht es schließlich darum, mit der Geschichte für heute zu lernen. Hier wird deutlich: Die Situation Betroffener hat sich seit 1945 stark gebessert, dennoch muss die gesellschaftliche Entwicklungen immer kritisch betrachtet werden, »dass wir gewahr werden, was geschehen könnte, wenn unsere Wachsamkeit und Sensibilität gegenüber erneuten Gefahren nachlässt« (Michael Wunder). Angebracht ist diese Wachsamkeit etwa angesichts wachsender gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit: Menschen mit Behinderung und andere Minderheiten werden in durchökonomisierten Zeiten von vielen als soziale Last im Sinne eines Kosten-Nutzen-Kalküls wahrgenommen (Eva Groß und Andreas Hövermann).
»Alles nicht Erinnerte kann jederzeit wieder geschehen«, schreibt Dorothea Buck, eine der wenigen noch lebenden Menschen, die die Verbrechen der Psychiatrie im Nationalsozialismus selbst erfahren musste und die später als Selbsthilfeaktivistin den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener mitgründete. Ihre Lebensgeschichte verbindet die Historie, die viele heute nur noch aus Geschichtsbüchern mit der Gegenwart und Zukunft, für die es zu lernen gilt. Passenderweise und sicher nicht zufällig steht ihr Artikel in der Mitte dieses lesenswerten und mahnenden Sammelbands.
Peter Heuchemer in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024