Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Wege, auf denen das Absetzen gelingt

Obwohl das Wissen über die bei psychischen Erkrankungen mitbeteiligten Vorgänge im Gehirn nach wie vor höchst rudimentär ist, werden diese Störungen im heutigen Gesundheitssystem standardmäßig biochemisch, d.h. mit Medikamenten behandelt. So haben die ärztlichen Verordnungen von Psychopharmaka in den letzten Jahren Rekordniveau erreicht. Antidepressiva betreffend beispielsweise 1,6 Milliarden Tagesdosen für Deutschland im Jahr 2019! Was aber, wenn man von diesen Medikamenten wieder loskommen möchte? Wie kann man sie absetzen und wer hilft einem dabei?

Fakt ist, dass der absatzwillige Patient in solchen Situationen meist alleine dasteht. Ärzte warnen ja entweder vor diesem Schritt oder reagieren mit dem fatalen Satz: »Dann lassen Sie die Tabletten einfach weg!« Dies jedoch kann in tiefes Leid führen. Denn entgegen der psychiatrischen Lehrmeinung kommt es nicht nur bei Benzodiazepinen – was lange Jahre verschwiegen wurde! –, sondern auch bei Neuroleptika und insbesondere bei Antidepressiva nach abruptem Weglassen der Medikamente oft zu schweren Problemen.

Von einem »kalten Entzug« sprechen bei solch einem Vorgehen Peter und Mahinda Ansari, die Autoren des Buches. Sie selbst haben sich im letzten halben Jahrzehnt ausschließlich »mit der Begleitung von Patienten im Psychopharmaka-Entzug« (S. 14) beschäftigt und plädieren für eine andere, höchst behutsame und langsame Form des Absetzens. »Sanften Entzug« nennen sie diese. Und im Mittelteil des Buches geben sie dezidierte Anleitungen für ein schrittweises Ausschleichen über sogenannte Absatztreppen mit minimal kleiner werdenden Dosierungen (Kap. 4).

Die aufgeführten Strategien sind eingebettet in ein umfangreiches Fachwissen über psychische Krankheiten und ihre jeweiligen Behandlungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu üblichen medizinischen Empfehlungen wird für einen nur kurzfristigen Einsatz von Psychopharmaka (in Monotherapie und Niedrigdosierung) plädiert und sich dezidiert gegen Dauermedikationen, wie sie heute gang und gäbe sind, ausgesprochen. Der Erfahrung nach macht gerade lange Medikamenteneinnahme ja das Absetzen in vielen Fällen extrem schwierig.

Wer auf Medikamente verzichtet, braucht andere Stabilisatoren. Unterstützende Alternativen werden in einem eigenen Kapitel daher ausführlich dargestellt (Kap. 5). Und überhaupt bietet das Buch umfangreiche Antworten auf Fragen, mit denen Absetzwillige bei ihrem durchaus riskanten Unterfangen immer wieder konfrontiert sind (s. Kap. 6). Beispielsweise, wie Krankheitssymptome von Absetzsymptomen zu unterscheiden sind (S. 169 ff.). Oder was nach einem erfolgreichen Absetzen zu beachten ist (S. 214 ff.). Auch über Bereiche, man lieber von vorherein auf Psychopharmaka-Einnahme verzichten sollte, wird informiert (z.B. bei Hochsensibilität oder Burnout; s. Kap. 3).

Patentrezepte haben natürlich auch die sehr erfahrenen Autoren nicht. Aber in der Summe skizzieren sie eine Landschaft, in der das Loskommen mit höherer Wahrscheinlichkeit gelingt – Psychopharmaka also, wie im Untertitel des Buches versprochen, »erfolgreich und dauerhaft« abgesetzt werden können. Diese Wegbeschreibung ist bitter nötig, da Ärzte heutzutage sehr leicht – oftmals auch überschnell und nicht berechtigt! – Psychopharmaka verordnen, in der Regel aber wenig Wissen darüber haben, wie man sie wieder absetzt. Patientinnen und Patienten geraten dadurch in Teufelskreise, die mit großem Leid verbunden sind und aus denen das Ausbrechen dann immer schwieriger wird.

Das Buch setzt daher notwendigerweise auf die Selbstbestimungskräfte der Betroffenen. Es möchte Orientierung geben – und das gelingt in einem ganz hohen Maße! Am Schluss wird darauf verwiesen, wie wichtig es ist, »sich den Platz am Ruder zurückzuerobern und sich aus der Passivität zu befreien« (S. 219). Denn ein einfaches »Weiter so« kann es beim viel Geduld und Eigeninitiative erfordernden Absetzen von Psychopharmaka nicht geben. Man muss sich schon auf seine Krankheit einlassen und sich mit ihr auseinandersetzen. Gerade psychische Krankheiten zeigen ja an, dass etwas mit dem Leben nicht stimmt. Und hier heißt es einzugreifen und Veränderungen vorzunehmen, statt (allein) auf die medikamentöse Lösung zu setzen. Wichtig: Ein (gutes!) Leben ist auch mit seiner Erkrankung möglich, wenn man denn nur den richtigen Umgang mit ihr findet (s. Kap. 2).

Ein Buch, das Mut macht und Hoffnung verbreitet. Zeigt es doch auf, dass vielfache (!) Wege aus psychischem Leid führen, und gibt es Hilfestellungen, diese auch zu finden. Daher sei es neben Fachleuten insbesondere den von psychischer Krankheit Betroffenen, die sich in der pharmakologischen Sackgasse festgefahren haben, empfohlen.

Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024