Niemals zuvor in meinem Leben habe ich ein Buch gelesen, das der Psychiatrie so deutlich ihre Daseinsberechtigung abspricht wie das hier rezensierte. Zumindest dann, wenn die Disziplin so praktiziert wird, wie es heute in den USA und Europa üblich ist: als Psychopharmakabehandlung.
Dass die Medikation den Hauptschwerpunkt psychiatrischer Therapie bildet, wird niemand ernsthaft bestreiten. Sehr unterschiedlich allerdings sind die Meinungen hinsichtlich des Wertes dieser Behandlungsform. Während die Biologische Psychiatrie hierzu immer neue Erfolgsmeldungen verbreitet – von hochwirksamen und weitgehend ungefährlichen, modernen Arzneimitteln der 2. und 3. Generation spricht – bezweifelt Gøtzsche gerade das. Und seine Gegenargumentation gründet genau darauf, worauf sich die Psychiatrie selbst zur Legitimation ihrer Behauptungen beruft: auf zahllosen »wissenschaftlichen« Studien.
Wozu man wissen muss, dass Peter C. Gøtzsche 1993 nicht nur Mitbegründer der auf kritische Bewertung medizinischer Therapien spezialisierten Cochrane Collaboration war und heute Direktor dessen nordeuropäischen Ablegers ist, sondern auch ausgewiesener Fachmann für Forschungsdesign und Forschungsanalyse mit Professur an der Universität Kopenhagen. Es ist also das eigene Kerngebiet, auf dem Gøtzsche die Psychiatrie attackiert: das Feld der Studien, aus denen die Disziplin ihr gesamtes Wissen für die Behandlung ableitet. Im Buch werden unzählige Studien besprochen – es mögen an die hundert sein – und der Leser ist oftmals auch überfordert, dem Herrn Professor en détail zu folgen. Aber was sich in diesen Reviews (so lautet der Fachausdruck für das kritische Nachprüfen per Überblicksarbeiten) immer wieder von Neuem herausstellt, ist, dass die Studien mangelhaft und ihre Ergebnisse daher weitgehend falsch sind.
Man muss sich, was durchaus anstrengend ist, da einlesen; aber am Ende versteht man es, weil die Mängel sich Studie für Studie in ähnlicher Form wiederholen: fehlerhaftes Design, zu kleine Stichproben, falsche Zuordnungen zu den Placebogruppen, Verfälschung der Ausgangslage durch Rekrutierung von Probanden in der Wash-out-Phase (Phase zwischen Absetzen und erneuter Gabe eines Mittels), statistische Manipulationen, verzerrte Interpretationen und vor allem immer wieder fehlende Verblindung, da sowohl die beurteilenden Ärzte als auch die Studienteilnehmer selbst an den ausbleibenden Nebenwirkungen erkennen, dass sie ein Placebo und nicht das Verum bekommen. Der sogenannte Goldstandard der Untersuchungsmethode bricht an dieser Stelle völlig zusammen. Und das eben nicht nur einmal oder ab und an bei einigen wenigen misslungenen Studien – nein, beständig!
Das heißt dann nichts anderes als – wie es der amerikanische Epidemiologe John Ioannidis an anderer Stelle schon 2005 in Worte fasste: »Die meisten publizierten Forschungsergebnisse sind falsch.« Wenn man Gøtzsche liest, kapiert man, es ist wirklich so: (Fast) alles ist falsch. Das ist ein schrecklicher Befund. Denn er bedeutet ja nicht mehr und nicht weniger, als dass (nahezu) das gesamte aus den Studien abgeleitete Wissen – und das ist der Kernfundus der Psychiatrie bezüglich der Wirksamkeit ihrer Pillen – falsch oder zumindest grob fehlerhaft ist!
Die meisten Forscher würden an dieser Stelle kehrtmachen und mit irgendwelchen kryptischen Verrenkungen ins Bett der Mutterlehre zurückkriechen. Aber Gøtzsche ist kein Psychiater, hat deshalb keinen Anlass dazu – und geht weiter! Das heißt, er zieht die Schlussfolgerungen, die man jetzt ziehen muss: Weder für Neuroleptika oder Antidepressiva noch für Antidementiva oder ADHS-Medikamente (Ritalin etc.) konnte in Studien je eine positive Wirksamkeit bewiesen werden. Zwar wirken sie im Gehirn, aber eben nicht heilend. D.h. nicht antipsychotisch, nicht antidepressiv usw.; sondern bestenfalls gar nicht und in einer Vielzahl der Fälle leider schädigend. Ja, abgesehen von möglicherweise kurzzeitigen Positiveffekten, sagt Gøtzsche, richten sie mehr Schaden als Nutzen an. Menschen, die wegen schizophrener Symptome langfristig Neuroleptika nehmen, stehen über einen größeren Zeitraum gesehen schlechter da als solche, die nur niedrige Dosen oder gar nichts einnehmen. Und für Depressive gilt dasselbe.
Wer das alles nun nicht glauben mag – schließlich wurde uns allen das offizielle Psychiatriewissen ja jahrelang gegenläufig eingetrichtert – der mag auf die großen Zulassungsverfahren bzw. die Protagonisten unter den Medikamenten schauen: Ob es nun »Prozac« von Eli Lilly, »Paroxetin« von GlaxoSmithKline oder »Citalopram« vom dänischen Hersteller Lundbeck ist – dem Land also, wo Gøtzsche zu Hause ist – nirgends ging es mit rechten Dingen zu. Stattdessen Manipulationen, Studienverzerrungen, Einflussnahmen an der Grenze zur Legitimität und über diese Grenze hinaus. Gøtzsche scheut sich nicht, konkrete Namen zu nennen und beschreibt die Vorgänge dezidiert.
Als Leser gewinnt man am Ende den Eindruck: Keines dieser Medikamente dürfte heute auf dem Markt sein. Keines dürfte kranken, seelisch schwer leidenden Menschen verschrieben werden, zumindest nicht über einen längeren Zeitraum. Vielleicht höchstens im Noteinsatz die vielgescholtenen Benzodiazepine, deren hohes Abhängigkeitspotential ja nach 25 Jahren des hartnäckigen Leugnens zu Beginn der 1980er Jahre zugegeben wurde. Endlich! Um dann aber von den angeblich segensreichen SSRI-Antidepressiva abgelöst zu werden, von denen bis heute dem Patienten erzählt wird, sie machten nicht abhängig. Was laut Gøtzsche nicht stimmt und was er anhand zahlreicher Fallgeschichten mit schrecklichen Entzugssymptomen, aus denen manchmal kein Entkommen mehr ist, gut und patientenorientiert belegt.
Am Ende seines Buches gibt Gøtzsche auf der Grundlage seiner Analysen dem Patienten 13 Ratschläge. Die zwei wichtigsten lauten: »Lassen Sie sich, wenn möglich, nicht mit Psychopharmaka behandeln« und: »Wenn Sie ein psychisches Problem oder ein anderes Problem mit Ihrem Leben haben, dann gehen Sie nicht zu einem Psychiater«. Ja, wenn Gøtzsche mit seiner Darstellung richtig liegt – und es gibt eigentlich an keiner Stelle Anlass, an seiner Gesamtaussage zu zweifeln –, dann ist dieses Buch die Bankrotterklärung für die Biologische Psychiatrie! Vermutlich werden deren noble Vertreter es aber gar nicht mitbekommen, weil sie in grenzenloser Arroganz das hier fundiert Erläuterte, Begründete und Erkannte bestenfalls als fehlgeleitete Außenseitermeinung eines Nichtpsychiaters abtun werden… oder das Ganze eh leugnen (sic!).
Womit Gøtzsche meiner Ansicht nach einmal mehr bestätigt wäre: In dieser von ihm »korrupt« genannten Landschaft geht es nicht um »gut statt schlecht«, nicht um »richtig statt falsch«, sondern vor allem um Macht und Geld. Und nur auf die jungen, noch unverbildeten Psychiater setzt der große dänische Aufklärer seine Hoffnung – die Hoffnung, dass diese den industriegeprägten Weg, der nichts mehr mit Wissenschaftlichkeit und Evidenz, aber viel mit Marketing zu tun hat, nicht weiterverfolgen werden. Dürfen wir das in der beginnenden Post-Truth-Ära wirklich hoffen?
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024