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Psychiatrie Verlag

Psychopharmaka absetzen? Warum, wann und wie?

Er habe das erste Fachbuch zum Thema geschrieben, bisherige Bücher würden tendenziell zum Absetzen aufrufen, so Gerhard Gründers Eingangsworte. Welche Bücher das sein sollen, vergisst er allerdings zu sagen. Auch den Ursprung seines Buchtitels lässt er unerwähnt. »Psychopharmaka absetzen: Warum, wann und wie« hieß das Symposium, das ich, der Rezensent, gemeinsam mit Asmus Finzen anlässlich der DGSP-Jahrestagung 2014 veranstaltete.

Entzugsprobleme wie auch Handlungsempfehlungen sind seit Jahrzehnten bekannt. Wenn Gründer vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Meinungsführer seiner psychiatrischen Community, sie mit aktuellen Daten bekräftigt, liest sich dies wohltuend. Tausende Patienten würden alleine deshalb Antidepressiva einnehmen, weil deren Absetzen unerträglich sei. Abhängigkeitsrisiken gibt es für Gründer allerdings nur bei Benzodiazepinen, nicht aber bei Antidepressiva und Neuroleptika. Hier folgt er leider der hanebüchenen Erzählung der Pharmaindustrie und Mainstreampsychiatrie: keine Sucht – also keine Abhängigkeit, und sei das Absetzen noch so schwer oder gar unmöglich.

Gründer referiert Artikel von Chouinard, Degkwitz, Cosci, Ekblom, Fava, Harrow, Kramer etc. zu Absetz- und Entzugssyndromen, zu Toleranzbildung, Wirkungsverlust, Behandlungsresistenz und Supersensivitätsstörungen, die schon in anderen einschlägigen Büchern aufgelistet sind. Er räumt ein, dass Entzugssymptome lebensbedrohlich sein können, und moniert die regelhaft unterbleibende Aufklärung über Risiken und speziell über Absetz- und Entzugssyndrome sowie deren unrealistische Häufigkeitsangabe im Spontanerfassungssystem für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Hut ab vor dieser kritischen Haltung.

Erkenntnisse über risikovermindernde Maßnahmen beim Absetzen finden jedoch kaum Eingang in sein Buch. Gründer empfiehlt ein stufenweises Absetzen, wozu Fachleute seit Jahrzehnten raten. Bei Antidepressiva und Neuroleptika rät er zum hyperbolischen Absetzen, das er mit der speziellen Serotonintransporterbesetzung bei Antidepressiva und D2-Rezeptorenbesetzung bei Neuroleptika begründet – wichtig und für viele Verschreibende sicher noch unbekannt. Ein Absetzen in zuletzt immer kleineren Schritten sei bei den bestehenden Produkteinheiten aber oft nicht möglich. Individuelle Rezeptierungen zur Anfertigung kleiner Dosierungseinheiten sei für Apotheken weder technisch noch ökonomisch umsetzbar, so Gründer. Dass aufgeschlossene Psychiater wie Jann E. Schlimme (der sein Buch »Medikamentenreduktion« beim DGPPN-Kongress 2018 Gründer schenkte) oder Martin Zinkler längst publizieren, wie diese Rezepte auszustellen sind, ignoriert Gründer ebenso wie die aus den Niederlanden beziehbaren Absetzstreifen. Und das schwierige Thema, wie die allgegenwärtigen Kombinationen von Psychopharmaka abzusetzen sind, blendet er einfach aus. Entzugssyndrome seien nicht selten und auch nicht leicht zu behandeln. Es schade der Reputation des psychiatrischen Fachs, wenn nicht offen über Risiken und mögliche langfristige Folgen der Psychopharmakaverabreichung aufgeklärt werde. Biologische Phänomene zu leugnen, die eine längerfristige Verabreichung von Psychopharmaka bewirken und deren Beendigung erschweren, schade letztlich dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Die einfachste Strategie des Umgangs mit einem Entzugssyndrom sei für Behandelnde die Wiederverabreichung der Psychopharmaka. Dies habe allerdings zur Folge, dass die Betroffenen niemals absetzen könnten, erkennt Gründer. Zudem würde das Absetzen mit zunehmender Verabreichungszeit immer schwerer. Den Schaden für das Ansehen der Psychiatrie spricht Gründer an; den für die Gesundheit und Lebensqualität der Behandelten nicht.

Keine Option sei die weitere Verabreichung von Psychopharmaka bei Entzugsproblemen dann, wenn sich Patient und Arzt gemeinsam zum Absetzen entschlössen. Was aber sollen Patientinnen und Patienten tun, wenn sie mit ihrem Entschluss zum Absetzen allein gelassen werden? Vermutlich fällt es einem Mainstreampsychiater zu schwer, sich in die Situation der vielen verstoßenen Betroffenen hineinzudenken.

Gründers Fazit: Alle Themen seines Buchs sollten Teil eines psychiatrischen Fortbildungscurriculums sein, auch für Hausärzte. In Apotheken sollten Zubereitungen der gängigsten Psychopharmaka erhältlich sein, die ein langsames Ausschleichen ermöglichen. Wichtig sei der Einbezug von Patientenstimmen in Versorgung und Forschung. Die Patientenperspektive sei viel enger in die Nutzenbewertung einzubeziehen. Schade, dass der Autor es versäumt, in seinem Buch mit gutem Beispiel voranzugehen, was die Einbeziehung von Aussagen, Publikationen und Büchern von Betroffenen zum Thema Absetzen betrifft.

Nichtsdestotrotz, Gründer hat ein mutiges und wichtiges Buch geschrieben. Oft habe er die Argumentation seiner Kollegen gehört, ihre Patienten würden die Psychopharmaka nicht nehmen, wenn sie über alle möglichen unerwünschten Wirkungen, Komplikationen und Spätfolgen aufgeklärt würden. Eigentlich solle schon vor Beginn der Behandlung zumindest das Nachdenken über das Absetzen gehören, schreibt er. Weshalb nur »eigentlich« und wieso nur nachdenken? Gebietet das Strafrecht nicht eine vollumfängliche Aufklärung vor Behandlungsbeginn?

Peter Lehmann in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024