Mit welcher filmischen Einstellung kann ein Regisseur deutlich machen, dass eine Szene nicht in einer somatischen, sondern in einer psychiatrischen Klinik spielt? Er könnte sich zum Beispiel entscheiden zwischen der Darstellung einer kleinen, wartenden Patientenschlange vor dem Stationsdienstzimmer, die der Reihe nach ihre Medikamente entgegennehmen, oder einer Krankenschwester, die mit einem großen Medikamententablett von Tisch zu Tisch geht.
Mit diesen Bildern im Kopf lässt der Buchtitel »Psychopharmakotherapie und Empowerment« aufhorchen. Selbstermächtigung und passiv Schlange stehen oder am Tisch auf die Medikamente warten passt nicht zusammen. Der im Untertitel genannte Begriff des Medikamentenmanagements mag Befremden in der Fraktion der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auslösen. Zur Erklärung muss deshalb darauf hingewiesen werden, dass das Buch in der Reihe »better care« des Psychiatrie Verlags erschienen ist und in der Pflege der Verweis auf »Management« in der Regel für eine hohe Praxisorientierung bürgt und nicht als betriebswirtschaftliche Attitüde missverstanden werden darf.
Schirmer geht es vielmehr darum, in der Psychiatrie die Verantwortung der Medikamenteneinnahme mithilfe der Beratung von Ärzten und Pflegekräften, in die Hand der Patienten zu legen. Doch Schirmer setzt nicht erst bei der eigenverantwortlichen Einnahme der verschriebenen Arzneien ein. Der erste Teil seines Buchs geht vielmehr der Frage nach, wie in den Abläufen einer psychiatrischen Klinik Raum und Zeit geschaffen werden kann, um eine selbstbestimmte Entscheidung von Patienten und die Berücksichtigung von Wünschen in Bezug auf die medikamentöse Therapie zu ermöglichen.
Als Kronzeugen für die Notwendigkeit eines authentischen Eingehens auf die Wünsche der Patienten äußern sich die Betroffenen Christiane Vogel und Klaus Gauger. Sie nehmen konträre Positionen darüber ein, ob und wie Medikamente ihnen helfen. Eindrücklich schildert Christiane Vogel, wie sie bedrängt wurde, Absetzversuche in den Wind zu schlagen, weil diese ihr nur schaden würden. Und zwar während sie von den Ärzten in keinerlei Weise über die Nebenwirkungen der verschriebenen Medikamente informiert wurde. Auch Klaus Gauger verschweigt nicht die Probleme, die ihn aufgrund der Medikamenteneinnahme begleiteten, obgleich seine Bilanz am Ende positiver ausfällt als die von Christiane Vogel.
Die ärztliche Perspektive deckt Jann E. Schlimme in seinem Text zu Wirkungen und Nebenwirkungen von Antidepressiva und Neuroleptika ab. Zudem befasst er sich mit Fragen des erfolgreichen Absetzens und Reduzierens sowie mit den Voraussetzungen für eine partizipative Entscheidungsfindung.
Es folgt ein Kapitel, das vor allem die Profis auf das Medikamentenmanagement vorbereiten soll: Welche Voraussetzungen müssen hierfür gegeben sein? Was ist im stationären Setting dabei zu beachten, was im ambulanten?
Im Abschnitt »Grundlagen des Medikamententrainings« macht Schirmer deutlich, wie wichtig es ist, eine Grundhaltung einzunehmen, die die Selbstbestimmung der Patienten stärkt und fördert. Dabei verschweigt er nicht, wie viel Umdenken die »kritische Auseinandersetzung mit den tradierten Vorstellungen und Vorgehensweisen bei der Medikation« bedeutet. Die potenziellen Konfliktlinien verlaufen bei einem ernst gemeinten partizipativen Ansatz – so kann man die Ausführungen des Autors in diesem Kapitel deuten – eher zwischen den Profis oder auch intrapersonell, als zwischen Patient und Pflegekraft.
Es folgt ein Kapitel, in dem die einzelnen Schritte des Medikamententrainings, das einen verhaltenstherapeutischen Charakter hat, detailliert erläutert werden. Ziel ist die selbstständige Einnahme der Medikation, ohne auf die Unterstützung von Pflegekräften angewiesen zu sein. Das Training umfasst zwei sich ergänzende Prozesse, das Assessment und die handlungsbezogene Intervention. Das Assessment dient dazu, den Umgang der Patienten mit den Psychopharmaka zu eruieren.
In diesem Prozess wird die oben beschriebene Grundhaltung besonders deutlich. Die Assessmentgespräche sollen zeitlich von der Medikamentenvergabe entkoppelt stattfinden, um so in ruhiger Atmosphäre Wünsche und Bedenken besprechen zu können. So soll zudem der Gefahr von vermeintlich erwünschtem Verhalten seitens der Patienten begegnet werden.
Das Schlusskapitel setzt noch einmal ein Ausrufezeichen hinter die Forderung, auch für jene Patientinnen und Patienten offen zu sein, die mit der Medikation hadern oder sie gänzlich ablehnen.
»Psychopharmakotherapie und Empowerment« wird seinem Titel gerecht. Haltungsfragen, eine offene Gesprächsführung und ein partizipativer Ansatz werden thematisiert. Besonders hervorzuheben ist das umfangreiche Downloadmaterial, das die Leser und Leserinnen sicher durch das vorgestellte Medikamententraining führt. Das Buch wendet sich an Pflegefachkräfte, kann aber auch in der Hand von Mitarbeitern der Eingliederungshilfe Klientinnen und Klienten zu einem selbstbestimmten Umgang mit ihrer Medikation befähigen.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024