In ihrer Dissertation, die der Mabuse-Verlag 2020 als Buch publiziert hat, befasste sich die Pharmazeutin Sylvia Wagner mit Neuroleptikaversuchen an Heimkindern in bundesdeutschen staatlichen und konfessionellen Einrichtungen (Fürsorgeerziehung, Kinder- und Jugendheime, heilpädagogische sowie kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtungen). Ihre Ergebnisse ordnete sie in ihren historischen, ethischen, rechtlichen und soziologischen Kontext ein.
Dabei kam sie zum Ergebnis, dass es sich in aller Regel um wissenschaftlich dilettantisch angelegte und zudem gesetzeswidrige, allerdings für die Täter juristisch folgenlose Experimente von Medizinern handelte – verübt an wehrlosen verhaltensauffälligen Kindern. Es galt herauszufinden, wie diese am besten mit Neuroleptika gefügig gemacht und ruhiggestellt werden können. Informationen fand die Autorin in medizinischen Zeitschriften, in Datenbanken, in Anstaltsakten, im Archiv der Pharmafirma Merck und bei Betroffenen.
An Beispielen zeigt die Pharmazeutin, wie verantwortungslos die Täter ihre Neuroleptika getestet haben und wie die Kinder unter den Substanzen gelitten haben. Ihr Buch wirft somit ein grelles Licht auf ein verdrängtes Kapitel der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und trägt zur Aufarbeitung von Gewalt in der damaligen Heimerziehung bei. Wie die Autorin nachweist, gab es in keinem der von ihr untersuchten Fälle ein informiertes Einverständnis oder eine vor Versuchsbeginn durchgeführte Nutzen-Risiko-Analyse. Nach den damaligen rechtlichen Grundlagen (Grundgesetz, StGB und ggf. Richtlinien von 1931) sowie ethischen Rahmenbedingungen (Nürnberger Kodex bzw. Deklaration von Helsinki) sei dies aber zwingend erforderlich gewesen.
Dass ein Ausblick auf die heutige Kinder- und Jugendpsychiatrie fehlt, in der in aller Regel (wie auch in der Erwachsenenpsychiatrie) weiterhin ohne informierte Zustimmung gearbeitet wird (eine umfassende Aufklärung über unerwünschte Wirkungen der verabreichten Substanzen und über Alternativen unterbleibt), ist dem Charakter der pharmaziehistorischen Arbeit geschuldet: Psychiatrische Menschenrechtsverletzungen werden für Historiker in der Regel erst nach ca. einem halben Jahrhundert interessant. Nichtsdestotrotz ist das Buch insgesamt erhellend und empfehlenswert.
Ein paar kritische Worte muss ich aber loswerden. Sylvia Wagner führt die durch Neuroleptika ausgelösten Muskelkrämpfe auf »Überdosierungen« zurück. Dies ist sachlich falsch. Diese Störungen treten bekanntlich (auch) unter sogenannten therapeutischen Dosierungen auf. Viel schlimmer ist, dass die Autorin trotz ihres löblichen Forschungsansatzes, auch nach einer Kontinuität aus der Zeit des Nationalsozialismus zu suchen, das letzte Wort ausgerechnet dem Psychiater Hanfried Helmchen als »Zeitzeugen« überlässt. Im Anhang der Arbeit – im Schlusssatz – darf der Mann sagen, er habe »gelernt, wie schwierig oder unmöglich die Beurteilung der Motive von Menschen vergangener Zeiten ist«.
Das von Helmchen zu hören, verwundert wenig, ist er doch ein Schüler von Felix von Mikulicz-Radecki, einem exponierten Propagandisten von Massensterilisationen zu NS-Zeiten, und von Helmut Selbach, Oberarzt unter Max de Crinis, einem Protagonisten des psychiatrischen T4-Massenmords. Es soll wohl so sein, dass die Taten seiner Kollegen in der Vergangenheit verschwinden, ohne dass sie als das gebrandmarkt werden, was sie sind, nämlich als schlichte Verbrechen, begangen von rücksichtslosen und machtbesessenen Ärzten. Und ebenso soll es wohl sein, dass wir den Blick dafür verlieren, dass – um es mit Bertolt Brecht zu sagen – der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch.
Kein geringerer als der Historiker Götz Aly war es, der in seinem Artikel »Herr Professor Hanfried Helmchen und das Menschenexperiment« in der taz vom 1. Juli 1982 diesen Psychiater, noch heute Mitglied im Ethik-Beirat der deutschen Psychiaterorganisation DGPPN, zu Wort kommen ließ, allerdings mit einem deutlichen und kritischen Kommentar versehen:
Würden Nichtmediziner oder Behörden Versuche an Menschen kontrollieren, so Helmchen, könnten diese »[...] von der Industrie als ökonomisch nicht mehr vertretbar abgelehnt werden. – Letztendlich müsse die Entscheidung beim Arzt verbleiben […], ob er einen Patienten in eine klinische Prüfung einbezieht und in welchem Umfang, wenn überhaupt, er ihn hierfür aufklärt.« (Nachzulesen im Internet unter bit.do/helmchen) War es nicht exakt diese Einstellung, die den Arzneimittelversuchen an Heimkindern zwischen 1949 und 1975 zugrunde lag?
Peter Lehmann in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024