Mit Andrea Rothenburg lernen wir Menschen »bipolar hautnah« kennen. Die bekannte Schauspielerin Eleonore Weisgerber fordert – erschüttert vom Suizid eines jungen Kollegen – mehr Informationen über die bipolare Störung. Deshalb hat sie eine Stiftung gegründet. Ihr Statement ist das Motto dieses Filmes.
Der junge Erik Formosa ist vermutlich ein kleiner TikTok-Star. Er singt zu Keyboard und Gitarre über seine Gefühle. Besonders geprägt habe ihn der Suizid eines Freundes vor vielen Jahren, mit dem er sich ursprünglich gemeinsam umbringen wollte. Sein Rat: Nicht alles in sich hineinfressen, sondern reden. Sein Hund sorge dafür, dass er die Wohnung verlasse und sein Tag eine Struktur habe. Erik bezaubert mit seinem Charme vermutlich vor allem die Mädchen auf TikTok.
Die Juristin Jutta Berger lebt mit Ehemann und Tochter; sie deutet ihre schweren Krankheitsphasen nur an. Zu den berührendsten Momenten dieses Films gehören die Aussagen ihrer 13-jährigen Tochter. Das innige Verhältnis zu ihrer Mutter beeindruckt; sie erzählt, wie sie reagiert, wenn Schulfreundinnen sich über psychische Störungen mokieren – sie lädt sie zu sich nach Hause ein. Ihre Mutter scheint inzwischen eine gewisse Stabilität gefunden zu haben; Medikamente spielen eine Rolle, aber auch die Selbsthilfegruppe. Sie rät, bei jeder Äußerung in Richtung Selbstgefährdung sofort die Klinik aufzusuchen.
Andreas Schmidt hat einen schwierigen Lebensweg hinter sich. Einen großartigen Job an der Oper musste er wegen der Erkrankung aufgeben; er ist berentet. Er nutzte seine künstlerische Begabung, gründete einen Verein und tritt nun als Travestiekünstler in der Rolle von »Tante Woo« auf. Es ist kaum zu glauben, dass der eloquente Mann mit Schnauzbart der gleiche Mensch ist wie die aufgedonnerte Diva auf der Bühne. Ihm gelingt es, die Intensität der Phasen zu schildern, die bei ihm innerhalb von Stunden wechseln. Halt gibt ihm sein Lebensgefährte, der meint, er habe sich eine gewisse Gelassenheit zugelegt. Klar wird: Sehr viel können Angehörige und Partner in den akuten Phasen nicht tun.
Die Psychiaterin Frau Dr. Schweigard arbeitet im öffentlichen Gesundheitsdienst und schwört auf die Selbsthilfe und den Trialog. Und sie betont, dass gegen den Willen der Betroffenen Zwangseinweisungen kaum möglich sind. Der Psychiater Dr. Reif vermittelt einige Basics: Die genetische Komponente ist von besonderer Bedeutung; hinzu kommen emotionaler Stress, ganz egal ob negativ oder positiv.
Andrea Rothenburg hat darauf verzichtet, allzu kleine Puzzleteile zusammenzusetzen, wie man es aus ihren vielen andere Produktionen gewohnt ist. Erik Formosa, Jutta Berger und Andreas Schmidt erhalten ausreichend Zeit, um dem Zuschauer vertraut zu werden. Vor allem aber verzichtet sie auf die Schilderung allzu tragischer Gefühle und Sensationen. Gerade die bipolare Störung verlockt ja dazu, mit der Durchgeknalltheit der Manie und der Todesgefahr in der Depression den Zuschauer zu schockieren. Es ist Andrea Rothenburg und ihrem Ensemble hoch anzurechnen, dass sie auf derartige Effekte verzichtet. Der Film beeindruckt mit einer ungeheuren Fülle an differenzierten Informationen zu diesem Störungsbild und seinem sensiblen Umgang mit den Betroffenen; deshalb hat er eine bemerkenswerte »antistigmatische« Wirkung.
Der Dokumentarfilm »bipolar hautnah« wird immer wieder in großen Kinosälen gezeigt. In der Regel gibt es hinterher interessante Diskussionsrunden. Infos unter psychiatriefilme.de
Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024