Mia war wegen einer Anorexie sieben Monate in stationärer Behandlung. »Everything Now« beginnt mit ihrem Entlasstag. Der Vater holt sie in der Klinik ab, zu Hause warten ihr Bruder und ihre Mutter und freuen sich, sie wieder zu Hause zu haben. Bei Mia machen sich aber auch schnell erste Enttäuschungen breit. Statt ihres Smartphones bekommt sie ein Tastentelefon von ihren Eltern. Einem Rat befolgend, möchten sie Mia von sozialen Medien fernhalten.
Beim ersten Treffen mit ihren Freunden bemerkt Mia, wie lang ein halbes Jahr im Teenageralter sein kann. Während ihres Klinikaufenthaltes haben alle Erfahrungen gemacht, die sie nicht mit ihnen teilen konnte. Um sie zu schonen, verschweigen Mias Freunde ihr einige Entwicklungen, die aber selbstverständlich mit der Zeit herauskommen. Mia nimmt dies zum Anlass, eine Bucket-Liste zu schreiben, um das Verpasste so schnell wie möglich nachzuholen und abzuhaken. Selbstverständlich stehen auf ihrer Liste viele ungesunde Dinge wie Rauchen, Sichbetrinken – der Zeitdruck tut sein Übriges. Ihre erste Partynacht endet dann auch mit einem körperlichen Zusammenbruch in der Notaufnahme. Daraufhin nehmen die Freunde einerseits das Tempo raus und versprechen Mia andererseits, ihr beim Umsetzen der Liste zu helfen. Zusätzliche Unterstützung erhält sie von ihrem Psychotherapeuten, gespielt von Stephen Fry, der im echten Leben mit seiner bipolaren Störung offen umgeht und selbst auf eine bewegte Jugend zurückblickt.
Mia versucht, mit diesen Hilfen im Alltag zu bestehen. Sie verliebt sich erstmals, kommt aber dann mit einer anderen jungen Frau aus ihrem Freundeskreis zusammen, weil die Angebetete sich für einen Freund von ihr entschieden hat. Viele Verwicklungen in den Beziehungen der Freunde sind vorhersehbar. Und selbstverständlich darf der aus vielen Filmen hinlänglich bekannte Move nicht fehlen, bei dem sich herausstellt, dass nicht, wie vermutet, die Mutter eine Affäre hat, sondern der bewunderte und geliebte Vater. Aber die Dialoge sind gut und mitunter überraschend. Es geht recht forsch zwischen den Teenagern zu, bis hin zu der Aussage, man wünschte, die Freundin wäre nie aus der Klinik zurückgekommen. Die Irritation, die das Verhalten von Mias Mutter beim Zuschauer auslöst, wird von Mia in einem gedanklichen Monolog auf den Punkt gebracht: Ihre Mutter sei die Sonne in Person, ihr Licht habe so viel Kraft, dass einem warm ums Herz werde, aber in ihrem Schatten sei es verdammt kalt.
Die Serie beleuchtet erfreulicherweise auch das Leid der Angehörigen. Mias Bruder wird von den Eltern zum sorgenfreien Teenager erklärt. Seine Probleme verschwinden hinter Mias Erkrankung. Er beschreibt diese Situation in einem Gespräch mit einer Freundin: Seine Eltern seien mit ihrer Scheidung beschäftigt und mit dem schwarzen Loch, auch bekannt als seine Schwester. Letztlich klären beide ihre Differenzen ohne Hilfe der Eltern.
»Everything Now« spricht sicherlich vor allem junge Menschen an; die Serie ist divers, es geht viel um typische Teenagerthemen, und die Geschichte von Mia ist gut darin eingebettet. Die Serie macht zudem deutlich, dass eine psychische Erkrankung auch das soziale Umfeld der Betroffenen tangiert. Mias Umfeld lernt in der Serie, dass nicht allein der gute Wille zählt, sondern auch der lange Atem. Es wird wenig beschönigt, die erkrankte Freundin kann auch mal nerven, weil sich häufig alle Aufmerksamkeit auf sie richtet. Alle müssen sich zunächst an die Situation gewöhnen.
Serien eignen sich besonders gut, um von diesen langen und mitunter langwierigen Prozessen zu erzählen. Von einem schlichten Teenagerfilm, der auf das ersehnte Happy-End zusteuert, ist »Everything Now« meilenweit entfernt.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 24.07.2024