Anders als im Lied von Funny van Dannen ist bei der Todesursache der Psychotherapeutin Dr. Thomalla nicht ganz klar, ob sie absichtlich aus dem Fenster ihrer Praxis sprang, ob sie gestoßen wurde oder ob es sich möglicherweise um einen Unfall handelt. Um den Zeitpunkt ihres Todes herum treffen drei Patientinnen und ein Patient in der Praxis ein und müssen sich mit der neuen Situation und dem plötzlichen Abbruch der Therapie auseinandersetzen. Die junge Patientin Derya nutzt die allgemeine Verwirrung und gibt sich als Assistentin von Dr. Thomalla aus. Sie überzeugt die anderen drei davon, die Therapie in der Gruppe fortzuführen. Malik hat ein Drogenproblem, bei Chloë ist die Zwangsstörung so ausgeprägt, dass sie den Großteil ihres Alltags bestimmt, und bei Schröder führt die Impulskontrollstörung immer wieder zu Handgreiflichkeiten und Schlägereien. Im Laufe der Handlung erhält der Zuschauer auch zunehmend Einblick in die häuslichen Verhältnisse der Protagonisten. Die Trostlosigkeit von Schröders Wohnzimmer erinnert an Bilder von Gregory Crewdson. Der Großvater sitzt meist trinkend oder schlafend auf dem Sofa und trauert seiner erfolgreichen Zeit als Dart-Spieler nach, die Großmutter liegt pflegebedürftig im Nebenzimmer.
Die vermeintlich wohlige Atmosphäre in Maliks Elternhaus mit seiner liebe- und verständnisvollen Patchworkfamilie erweist sich nicht immer als kompatibel mit seinen Problemen und Wünschen. Die Mutter von Chloë wiederum ist beruflich erfolgreich und unterkühlt, während ihr Vater sich zwar verständnisvoll zeigt, aber mit seiner dahindümpelnden Schauspielerkarriere hadert. In Rückblicken erlebt der Zuschauer die manchmal unkonventionellen, aber immer zugewandten Therapiegespräche von Dr. Thomalla. Derya bemüht sich mit einem Methodenmix in ihrer neuen Rolle als Therapeutin zurechtzufinden, scheitert aber mitunter an der Eigendynamik, die sie in Gang setzt. Am Ende einer von ihr initiierten Familienaufstellung versucht Chloë, aus dem Fenster zu springen. Immer wieder erscheinen Einzelne nicht zu den verabredeten Therapiezeiten oder gemeinsamen Unternehmungen, was bei einem Teil der anderen Besorgnis auslöst. Aus einer Gruppe von Patientinnen und Patienten werden Freunde, und die Rolle der selbst ernannten Therapeutin Derya verschwimmt zunehmend. Spätestens beim Bau eines Floßes fällt ihr ungewöhnlicher Enthusiasmus auf, der in einer tiefen Depression endet. Nun wird den anderen klar, dass auch sie Betroffene ist und professionelle Hilfe braucht. Sie begleiten sie zur stationären Aufnahme.
Die Zielgruppe von »Everyone is f*cking crazy« ist klar abgesteckt. In der Mediathek lautet die Altersempfehlung »ab 12 Jahren«, vor und am Ende jeder Folge finden sich Hinweise auf Telefonseelsorge und Depressionshilfe, die Website der Mediathek bietet weiterführende Informationen. Die Serie ist sehr explizit in Bezug auf Suizid und psychische Erkrankungen, die obligatorische Aussage über das richtige Vorgehen beim Aufschneiden der Pulsadern darf natürlich nicht fehlen. Psychische Erkrankungen werden nicht verharmlost oder romantisiert, und es wird auch nicht suggeriert, dass »mit dem guten Willen« der Angehörigen oder Betroffenen die Probleme oder gar die Krankheit verschwinden. Vielmehr wird die Betroffenheit einerseits als ein täglicher Kampf beschrieben, andererseits macht die Serie auch deutlich, dass psychische Erkrankung lediglich einen Teil des Menschen ausmacht. Manchmal gesellt sich dieser Teil zu all den Widrigkeiten des Alltags als zusätzliche Erschwernis hinzu. Dann wieder bietet der Alltag auch schöne und entlastende Momente.
Keine Frage, von den durchweg sehr talentierten jungen Schauspielern wird man in Zukunft noch einiges hören, der Soundtrack passt, fachlich gibt es bis auf Kleinigkeiten (»Du wirst eine Entgiftung machen – und dann wieder einen Entzug«) nichts zu beanstanden. Dennoch könnte der Spannungsbogen etwas straffer sein, eine Prise mehr Humor (man ist ja von der Serie »Sex Education« verwöhnt) und etwas weniger Wiederholungen (Wo ist eigentlich …? Ich kann sie schon seit Stunden nicht erreichen) hätten der Serie den letzten Schliff gegeben. Aber das ist eigentlich auch das Ergebnis der Suche nach dem Haar in der Suppe. Davon abgesehen – guter Stoff.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024