In einem für Guillermo del Toro erstaunlich konventionellen Film lässt der Regisseur die Zuschauer an der Metamorphose des Protagonisten Stanton Carlisle in den USA um 1940 teilhaben. Nachdem dieser ein Zimmer in Brand gesteckt hat und danach offensichtlich untertauchen möchte, findet er Unterschlupf beim Jahrmarktbudenbesitzer Bruno. Bruno verdient sein Geld mit einer Show, bei der zum Entsetzen des Publikums einem zur Bestie stilisierten, in Verwahrlosung gefangen gehaltener Mensch ein lebendiges Huhn zum Fraß vorgeworfen wird. Bei seiner Arbeit auf dem Jahrmarkt lernt Stanton die Schaustellerin Molly Cahill kennen und verliebt sich in sie. Carlisle freundet sich zudem mit der Mentalistin Zeena Krumbein an und lernt von deren Mann die Techniken des vermeintlichen Gedankenlesens. Nachdem der Mann von Letzterer aufgrund einer Verwechselung zwischen Trinkalkohol und Methanol an einer Vergiftung stirbt, stiehlt Stanton dessen Anleitungsbuch für die verwendeten Tricks beim Gedankenlesen und verlässt gemeinsam mit Molly den Jahrmarkt, um seine erlernten Fähigkeiten bei Darbietungen in gehobenen Kreisen zu Geld zu machen.
Bei einem seiner Auftritte lernt Stanton die Psychoanalytikerin Dr. Lilith Ritter kennen, die später ihr Wissen über die reichen Patienten aus den Therapiestunden an Stanton weitergibt, damit er es bei seinen Shows verwenden kann. Mit zunehmendem Erfolg wird Stanton immer skrupelloser, dringt tief in die inneren Konflikte seiner Showgäste ein und suggeriert, sie von ihren Leiden befreien zu können. Dabei hintergeht er seine Frau Molly, verschweigt ihr seine hohen Einnahmen und beginnt eine Affäre mit Dr. Ritter. Später muss er erkennen, sich in seiner Komplizin getäuscht zu haben, aber zu diesem Zeitpunkt ist sein Leben bereits so aus den Fugen geraten, dass sein gesellschaftlicher Abstieg bereits unausweichlich ist und er, nun wie sein Vater selbst Alkoholiker, wieder zum Beginn seiner Aufstiegsgeschichte zurückkehrt.
Mit »Nightmare Alley« hat del Toro vordergründig ein Remake eines Psychothrillers geschaffen, der mit düsteren Bildern, gelegentlichen Steampunkzitaten und erstaunlicher Ähnlichkeit zur Licht- und Farbästhetik der Serie »Ratched« (siehe SP 01/2021) über gelegentliche Längen hinweghilft.
Die Handlung kann aber auch als eine Allegorie verstanden werden auf das Schicksalhafte des Lebens, welches so eng mit der Herkunft verknüpft ist, dass ein Entrinnen nur von kurzer Dauer ist. Die Fähigkeit, in die psychischen Verwerfungen anderer einzudringen, hilft Stanton letztlich nicht, die eigenen zu entziffern und aufzulösen. Während del Toros Film »Pans Labyrinth« noch das gegenwärtige gemeinsame Leid einer Mutter und ihres Kindes in das gesellschaftliche Trauma des spanischen Faschismus einbettet, sind die Traumata von Stanton und derjenigen, denen er Katharsis verspricht, vertikal bedingt: Den Boden bereitet die familiäre Vergangenheit, und es braucht keine äußeren Gegebenheiten, um den eigenen Kerker zu schaffen.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024