Zur Opioid-Krise in den USA und ihren Auswirkungen gibt es vielzählige Dokumentationen. Netflix wagt sich mit einer Eigenproduktion ans Thema und bringt eine Dramaserie, die auf wahren Begebenheiten beruht, aber auch fiktive Elemente enthält. Es stellt sich die Frage, ob es einer solchen Serie bedarf, da doch ein Großteil der erschütternden Fakten mittlerweile gut bekannt ist und es bereits ähnliche Produktionen gibt.
Kam man schon vorher bei nüchterner Betrachtung der Sachverhalte dieser Gesundheits-und Sozialkrise aus dem Staunen nicht heraus, so verstärkt »Painkiller« noch den Wunsch, sich permanent ungläubig die Augen zu reiben. Der Zuschauer begleitet die Wege verschiedener Protagonisten. Die junge Shannon Schaeffer beginnt einen Job als Pharmavertreterin für das Unternehmen Purdue Pharma und dessen Präparat »Oxycontin«. Ihre Methoden erinnern an einen Strukturvertrieb, bei dem es auch darum geht, immer wieder neue Vertriebspartner zu gewinnen. Die (meist männlichen) Ärzte werden zunächst umgarnt, später unter Druck gesetzt, mehr Umsatz zu machen.
Gien Kryger besitzt eine Autowerkstatt und erhält nach einem Arbeitsunfall gegen seine Schmerzen Oxycontin. Er steigert kontinuierlich die Dosis, bis irgendwann nicht mehr klar ist, ob er das Opioid gegen seine Schmerzen oder gegen den Entzug nimmt. Die fiktive Figur der Juristin Edie Flowers verkörpert die Menschen, die den Skandal um das Geschäftsgebaren von Purdue aufgedeckt haben. Wie eindeutig die Dinge liegen, zeigt die Tatsache, dass der Inhaber von Purdue Pharma Richard Sackler als eine zentrale Person des Skandals in der Serie namentlich benannt wird. Er wird als exzentrischer, manchmal zerstreuter Manager dargestellt, der sich mit seinem Hund beschäftigt, wenn Probleme aus dem Management an ihn herangetragen werden.
Die Serie beantwortet vordergründig die Frage, wie so etwas wie die Opioid- Krise, ausgelöst durch ein Pharmaunternehmen, in den USA möglich ist. Es bleiben aber auch Leerstellen. Auf der individuellen Ebene wird deutlich, dass nicht alle Ärzte, die Oxycontin verschrieben haben, nur an Einnahmen interessiert waren. Der Hausarzt von Gien Kryger bemerkt bei seinem Patienten suchttypische Verhaltensweisen und Argumentationsmuster. Am Ende stellt er ihm aber ein Rezept aus, weil er jemanden vor sich hat, der nachvollziehbar leidet. Die Dosis ist allerdings niedriger als die, die Purdue empfiehlt. Andererseits werden Ärzte gezeigt, die sich daran berauschen, auf Partys von Purdue die Konventionen sausen zu lassen und den jungen Pharmavertreterinnen in einem vermeintlich privaten Rahmen näherzukommen. Das Versagen der amerikanischen Zulassungsbehörde wird in der nonfiktionalen Person Curtis Wright aggregiert, der mit der Behauptung, Oxycontin habe kein hohes Suchtpotenzial, die Zulassung des Pharmakons vorantrieb. Die darauffolgende Indikationserweiterung über palliative Schmerzzustände hinaus war der Beginn der Opioidkrise. Rätselhaft bleibt, wie in einem Land mit hohem wissenschaftlichem Standard alle Sicherungssysteme versagen können und sich eine Unternehmerfamilie als staatlich legitimierter Drogenhändler über viele Jahre am selbst verursachten Leid der Menschen bereichern kann. Die Serie legt den möglichen Mechanismus offen. Eine Lüge muss nur oft genug von den »richtigen« Personen wiederholt werden, dann wird sie zur Wahrheit. Hier war es die Lüge, ein nicht süchtig machendes Opioid entwickelt zu haben. Seit Beginn der Opioidkrise starben in den USA mehr als 450.000 Menschen. Zu Beginn jeder Folge von »Painkiller« kommen jeweils reale Angehörige eines Todesopfers der Krise kurz zu Wort.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024