Ungleich mehr Freiheit bietet die Fiktion, der Spielfilm. Das verführt zu Überzeichnungen, denn die Darstellung skurriler Gestalten lässt den Zuschauer lachen, staunen oder sich fürchten. Sonja Heiss war nicht ganz frei in der Gestaltung des Anstaltsmilieus, denn sie orientierte sich an den Beschreibungen von Joachim Meyerhoff. Es blieb dennoch ein gewisser Gestaltungsspielraum, und es hätte schiefgehen können.
Joachims Vater ist Kinder und Jugendpsychiater und Direktor einer Klinik in Schleswig-Holstein (auf dem Hesterberg). Die Direktorenvilla befindet sich auf dem Gelände. Einiges gibt der Autor bereits vor: dass die Familie sich zwischen den Patienten wohler fühle als unter den Normalen, ja, dass diese wunderlichen Gestalten eigentlich die Normalen wären. Nur die Mutter träumt von den Sommern in Italien. Sie wirkt immer ein wenig schläfrig, vor allem im Kontrast zu dem hanswurstigen Gatten und Klinikdirektor. Die Mutter schlägt vor, doch mal normale Leute einzuladen. Ihr Mann, wie gewohnt lakonisch: »Als ob die Henkels normal wären.«
Man sieht immer wieder quasi Prototypen von Chronikern, die das riesige Anstaltsgelände durchstreifen. Der Direktor wird morgens von einem jungen Mann abgeholt, der lediglich ein Steuerrad in den Händen hält und damit ein imaginäres Fahrzeug lenkt. Ein anderer Patient bewacht in einer Fantasie-Uniform das Tor und muss um Ausgang gebeten werden; ein Halbwüchsiger erschießt mit seiner Spielzeugpistole jeden, der ihm in den Weg kommt. Der Glöckner, ein Hüne, der immer eine Glocke läutet, muss Joachim auf den Schultern reiten lassen, wenn der mal wieder eine Krise hat. Joachim begegnet den Patienten mit großer Selbstverständlichkeit. Es ist ja eher er, der ab und zu ganz grässlich und sogar gefährlich ausrastet. Dann setzt man ihn auf die Waschmaschine, die ihn im Schleudergang so durchruckelt, dass er wieder zur Besinnung kommt. In der Anstaltsküche bekommt er vermutlich mehr als nur einen Nachtisch; und nach einem besonders schlimmen Tobsuchtsanfall – als er nämlich erfährt, dass sich die junge Marlene, in die er verliebt war, suizidiert hat – landet er selbst in einem Krankenbett. Gegen Ende des Films verwandelt sich die wunderschön im Stil der 1960er Jahre ausgestattete Villa in eine große unbetreute therapeutische Wohngemeinschaft, und in der Küche sitzt die heranwachsende Klientel. Den einen oder anderen Protagonisten kennt man aus den Produktionen des Berliner Theaters Thikwa. Sie alle sind herzerfrischend.
Es ist aber vor allem die Familie selbst, besonders der von Devid Striesow fast behäbig verkörperte Vater, der für gute Stimmung sorgt. Die Familie ist witzig, die drei Kinder mögen sich, und mit Argwohn beobachten sie, wie die Mutter immer unglücklicher wird und die Ehe zu kriseln beginnt. Immer wieder schleicht sich Joachim in das elterliche Schlafzimmer und schiebt die getrennten Betten wieder zusammen.
Der Film lief auf der Berlinale in der Reihe »Generation« und hatte inzwischen bereits seinen regulären Kinostart; er wird sicher noch häufig zu sehen sein. An manchen Stellen rutscht er ein wenig in die Klamotte – geschenkt. Coming-of-Age-Filme haben ja stets ihren eigenen Charme, dieser ganz besonders. Er macht tatsächlich ein wenig sentimental, so wie es uns allen ja schon mit den Meyerhoffschen Romanvorlagen ergangen ist.
Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024