Meryem lebt außerhalb von Istanbul gemeinsam mit ihrer Schwägerin Ruhiie und ihrem Bruder Yasin. Während sie in Istanbul als Reinigungskraft in einem Privathaushalt arbeitet, verdient Ihr Bruder als Sicherheitskraft in einer Diskothek sein Geld. Seine Frau Ruhije ist schwer depressiv. Meryem selbst leidet immer wieder an Ohnmachtsanfällen ohne somatischen Befund und wird deshalb an die Psychiaterin Peri vermittelt. Peri dringt mit ihren Fragen nicht zu Meyrem durch, diese weicht immer wieder aus, wenn es in die Tiefe geht. Zudem spricht Meryem zu Beginn der Therapie an, dass sie hierfür noch die Genehmigung ihres Hodschas benötige, die sie sich aber nicht einholt.
Von diesen zunächst zentralen Protagonisten entspinnen sich in der Netflix-Serie „Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“ die Lebenswelten und -geschichten sehr unterschiedlicher Menschen innerhalb der türkischen Gesellschaft. Mit dem Einblick in den Alltag der Menschen werden auch die vielen Brüche deutlich, die an den Kanten zwischen Tradition und Moderne, Religion und Säkularität oder Jugend und Alter verlaufen. Gleichzeitig bleiben die Protagonisten vielfältig miteinander verbunden. So fällt es der Psychiaterin Peri schwer, Meyrem zu behandeln, weil diese ein Kopftuch trägt und auch sonst ihrem Rollenverständnis einer modernen Frau entspricht. Ihre Supervisorin Gülbin, die mit ihr befreundete, aus einer konservativen Familie stammende Psychiaterin, bestärkt sie darin, die Behandlung weiterzuführen.
Mit dem Fortlauf der Handlung wird deutlich, wie komplex verflochten die Leben der Figuren und mitunter auch ihr Schicksale sind (Short Cuts lässt grüßen). Die schiere Fülle an einzelnen Geschichten und Zusammenhängen müsste vermuten lassen, dass die Serie eine überladene und rastlose Atmosphäre entfaltet. Das Gegenteil ist der Fall, der Blick der Kamera ruht immer wieder auf Hauswänden, Blumen und Wohnungseinrichtungen aus. Manches ist als Zuschauer kaum auszuhalten. Yasin, der in seiner hilflosen Überforderung im Umgang mit der Depression seiner Frau das kleinste Anzeichen einer Stimmungsaufhellung sofort ergreift, um zum gewohnten Familienleben zurückzukehren, hat immer wieder Wutausbrüche, wenn sich seine Hoffnungen nicht erfüllen.
Gülan, die Schwester der Ärztin Gülbin ist religiös, trägt Kopftuch und gerät mit ihr regelmäßig in Streit darüber, wie man sich richtig verhält, während im Nebenzimmer ihr Bruder, der schwerbehindert ist, unter den Konflikten leidet. Vieles von dem, was die Protagonisten erleben, könnte auch in einer anderen, westlichen Großstadt geschehen. Der vermögende Sinan wohnt zwar in einer luxuriösen Wohnung und hat vermeintlich Erfolg bei Frauen, ist aber letztendlich in einem einsamen und steril sterilen Leben gefangen.
Die Serie wurde sowohl unter Feministinnen als auch Muslimen kontrovers diskutiert. Tatsächlich erscheinen die modernen und emanzipierten Frauen in „Bir Başkadır“ auf einer unvollendeten Suche danach, was ein richtiges Leben ist. Ihre nach außen wirkende, kühle und aus Bildung gespeiste Selbstgewissheit wird regelmäßig dann erschüttert, wenn sie von anderen als Arroganz oder gar Beliebigkeit ausgelegt wird. Was man der Serie nicht vorwerfen kann, sind einfache Antworten auf die komplexe Frage, wie sich Menschen in einer widersprüchlichen Gesellschaft ins Lebens einfädeln.
Etwas holzschnittartig mutet lediglich die Genesungsgeschichte von Ruhiie am Ende der Serie an.. Nachdem sie sich der traumatisierenden Vergangenheit in ihrem Heimatdort gestellt hat, überwindet sie ihre schwere Depression und blüht innerhalb eines Tages auf. Interessant wäre ein Einblick in die stationäre Psychiatrie gewesen, die sich beim Gang durch einen Flur andeutet, wenn sich Meryem in die ambulante psychiatrische Sprechstunde begibt. Das wäre doch mal ein Thema von vielen für eine zweite Staffel. Die erste ist bereits inhaltlich wie stilistisch ein kleines Meisterwerk.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024