Die deutsche Psychiatrie ist nicht von den Nationalsozialisten "missbraucht" worden, vielmehr war sie teilweise intellektuell, strukturell und personell in die Verbrechen verwickelt. Mindestens 296.000 psychisch beeinträchtigte Kinder und Erwachsene wurden ermordet.
Von der nationalsozialistischen "Machtergreifung" 1933 bis zur Kapitulation des Regimes 1945 reicht das dunkelste Kapitel der neueren deutschen Geschichte. Die Psychiatrie ist davon in besonderer Weise betroffen: Zur Debatte steht nicht, ob die deutsche Psychiatrie zum Teil intellektuell, institutionell und personell in die Ermordung von Hunderttausenden von Patienten verwickelt war, sondern wie, warum und in welchem Ausmaß.
Nach Eric J. Engstrom und Volker Roelcke (2003, S. 12 ff.) haben sich zwei unterschiedliche Positionen herauskristallisiert. Einerseits sei die Diskontinuität der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 betont und die Psychiatrie zum Opfer von politischen Zwängen erklärt worden. Andererseits habe man die Kontinuität von Modellen und Personen vor 1933 und nach 1945 unterstrichen und die aktive Zuarbeit der psychiatrischen Experten herausgearbeitet. Allerdings warnen die beiden Psychiatriehistoriker vor Polarisierungen.
Jedenfalls ergibt sich die Singularität der Ereignisse schon aus den Zahlen: Mindestens 296.000 Patientinnen und Patienten wurden ermordet, davon rund 140.000 Menschen aus im Krieg besetzten Gebieten und bis zu 10.000 Kinder, dazu kommen 300.000 bis 400.000 Zwangssterilisierungen (Faulstich 2000). Die meisten Opfer waren behinderte und psychiatrische Patienten aus Heimen und Anstalten. Die Verbrechen standen in der Konsequenz der totalitären und rassistischen nationalsozialistischen Ausrottungspolitik gegenüber angeblich "minderwertigen" und "lebensunwerten" Menschen.
Unter welchen Voraussetzungen konnte es dazu kommen? Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde versucht, Charles Darwins (1809 bis 1882) Evolutionslehre von der "natürlichen Auslese" der Arten auf gesellschaftliche Verhältnisse zu übertragen (Sozialdarwinismus). Leitend waren Benedict-Augustin Morels (1809 bis 1873) Degenerationstheorie, Joseph Arthur Gobineaus (1816 bis 1882) Vorstellung, es gebe höher- und minderwertige Rassen, Francis Galtons (1822 bis 1911) "Eugenik" als Lehre von der gezielten Selektion des Erbguts und die Ausdehnung eugenischen Denkens auf ganze Ethnien durch Alfred Ploetz (1860 bis 1940). Diese Vorstellungen waren Anfang des 20. Jahrhunderts in allen politischen Lagern und Ländern zu finden (Fangerau und Noack 2006, S. 228).
Die speziell "völkische", auf Rassen bezogene deutsche Variante deutete die sozioökonomischen Probleme des wilhelminischen Kaiserreichs biologistisch um: Der natürliche "Kampf ums Dasein" sei durch die moderne Zivilisation ausgeschaltet worden, deshalb könnten sich "Untaugliche" vermehren, deren Fortpflanzung jedoch zu verhindern sei, um das "reine" Erbgut der "arischen Rasse" zu sichern. Solche Positionen waren bis zum Ersten Weltkrieg noch selten, kamen dann aber verstärkt auf.
Forderungen nach "Euthanasie", also der Tötung angeblich "lebensunwerter" Menschen, wurden in den zwanziger Jahren lauter. Formuliert wurden sie 1920 von dem Juristen Karl Binding (1841 bis 1920) und dem Freiburger Professor der Psychiatrie Alfred Erich Hoche (1865 bis 1943) in ihrer Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens". Die zur Tötung bestimmten Menschen werden nach Gruppen selektiert (komatöse, unheilbar tödlich erkrankte und schwer geistig behinderte Patienten). Hoche schreibt über die schwer geistig Behinderten: "Es ist eine peinliche Vorstellung, daß eine ganze Generation von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahin altern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für die Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen" (Binding und Hoche 1922, S. 55).
Ganz anders lautete ebenfalls 1920 eine Einschätzung von Karl Birnbaum (1878 bis 1950), der ab 1930 ärztlicher Direktor in Berlin-Buch war, drei Jahre später entlassen wurde und 1939 in die USA emigrierte: "Es ist nicht zu verkennen: Von vielem Schweren und Trüben, von Bedrückungen und Enttäuschungen, von Verirrungen und Entgleisungen, von Hemmungen und Zerstörungen würde das Leben befreit, ließe sich das Pathologische aus seinem Umkreise bannen. Aber ebenso ist gewiß: Es würde zugleich an Formen und Nuancen, an Farben und Lichtern, an Reichtum und Fülle des Seelenlebens erheblich verarmen. Es würde an Lebenswert verlieren" (Birnbaum 1920, S. 303).
Zwischen diesen Polen spielten sich die Diskussionen ab. Dabei dürfte die Mehrheit der deutschen Psychiater der Eugenik noch Ende der zwanziger Jahre zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht skeptisch gegenübergestanden haben. Ideologische Gründe gaben den Ausschlag. Nach der Einführung verschiedener Zeitschriften und Fachgesellschaften wurde die "Rassenhygiene" in der Weimarer Republik politisch gefördert und ab 1927 im Berliner "Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie" mit über dreißig weiteren Institutsgründungen bis 1933 verankert (Schmuhl 2003; Roelcke 2013).
Unter den Nationalsozialisten erhielt die "Rassenhygiene" den Rang eines Staatsziels. Schulbücher und Plakate waren wirksame Propagandamittel. Jüdische Mediziner wurden verfolgt, jüdische Patienten ab 1939 von der öffentlichen Wohlfahrt ausgeschlossen. Das 1933 erlassene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verpflichtete die Ärzte zu Zwangssterilisierungen an Behinderten und psychisch Kranken. Als erbkrank galten Menschen mit "angeborenem Schwachsinn", "Schizophrenie", "manisch-depressivem Irresein", "erblicher Fallsucht" (Epilepsie), "erblichem Veitstanz" (Chorea Huntington), "erblicher Blindheit", "erblicher Taubheit", "schwerem Alkoholismus" und "schwerer körperlicher Mißbildung".
Zur Organisation der Sterilisierungen wurden flächendeckend Erbgesundheitsgerichte, Gutachterausschüsse sowie erbbiologische Beratungsstellen eingerichtet. Für alle Anstalten bestand eine Anzeigepflicht. Zusätzlich zu den 300.000 bis 400.000 erfolgten Zwangssterilisierungen starben bei den Eingriffen rund 6.000 Menschen, davon 90 Prozent Frauen.
Die Vernichtungsaktionen (verharmlosend "Euthanasie", also "Gnadentod", genannt) ließen sich erst nach Kriegsausbruch durchsetzen. Hitler unterschrieb eine ab August 1939 wirksame Verfügung zur Tötung von schwer behinderten Kindern. In 37 neu eingerichteten "Kinderfachabteilungen" wurden mit tödlichen Medikamentendosen mindestens 5.000 Kinder im Alter von bis zu 16 Jahren umgebracht, die bis dahin vor allem bei den Eltern oder in Heimen gelebt hatten. Die Ermordung von Erwachsenen geschah in zwei Wellen.
Die Erfassung, Selektion, Deportation und Tötung der Patientinnen und Patienten erfolgte zunächst im Zuge der sogenannten "AktionT4", benannt nach der Tarnadresse der administrativen Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4. Dort war der Sitz der zuständigen "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten", die durch die "Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege" legitimiert wurde und von der "Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten" administrativ unterstützt wurde.
Zuerst wurden Meldebögen in die Anstalten versandt. Nach deren Rücklauf wurden die Patienten in Berlin anhand der Angaben von jeweils drei Gutachtern selektiert (hinsichtlich "Erblichkeit", "Unheilbarkeit", "Arbeitsleistung", "Asozialität", "Rassenzugehörigkeit"). Standen die Einschätzungen fest, teilte man dies den Anstaltsleitern mit und die betroffenen Patienten wurden in Bussen durch die "Gemeinnützige Krankentransport-Gesellschaft mbH" (GEKRA) abtransportiert und in "Zwischenanstalten" gesammelt. Von dort wurden sie bis 1941 in sechs Tötungsanstalten verbracht (Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein bei Pirna) und mit Kohlenmonoxid in Gaskammern vergiftet. (...)
Vereinzelter Widerstand regte sich bei den Kirchen. Ab 1940 protestierten mehrere höhere Kirchenvertreter schriftlich, wenn auch nur auf dem Dienstweg. Zu nennen ist etwa ein Brief vom 19. Juli 1940 des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm (1868 bis 1953) an den Reichsinnenminister über die Vorgänge in der Tötungsanstalt Grafeneck. Öffentlich handelte hingegen der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen (1878 bis 1946), am 3. August 1941 in einer Predigt, in der er den Abtransport westfälischer Patienten aufdeckte, die Vermutung äußerte sie würden vorsätzlich getötet und von seiner aus diesen Gründen erstatteten Strafanzeige berichtete.
Die T4-Aktion wurde 1941 offiziell gestoppt. Aber auf regionaler Ebene liefen die Aktionen weiter. Insbesondere wurden Patienten aus Anstalten deportiert, um Platz für Kriegsopfer zu schaffen, und dann in den Auslagerungsanstalten umgebracht. Diese verdeckten Maßnahmen wurden großenteils durch das Pflegepersonal auf Weisung von Ärzten durchgeführt. Sie fanden in mindestens dreißig Anstalten statt, wurden durch Aushungern und Überdosierung von Medikamenten vollzogen und forderten noch weitaus mehr Todesopfer als die erste Tötungswelle.
Hunderte von Ärzten waren an den Tötungsaktionen direkt beteiligt, mindestens vierzig Psychiater verfassten die Gutachten, etliche Vordenker und Organisatoren waren ebenfalls Psychiater. Zu Letzteren zählten etwa der Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und SS-Offizier Werner Heyde (1902 bis 1964) als medizinischer Leiter der "Aktion T4", der maßgebliche Theoretiker der "Rassenhygiene" Ernst Rüdin (1874 bis 1952) und der Heidelberger Lehrstuhlinhaber Carl Schneider (1891 bis 1946). Bezeichnend dürfte die Äußerung des Bremer Klinikdirektors und T4-Gutachters Walther Kaldewey (1896 bis 1954; 1935, S. 297) sein: "Wie das Heer den Frieden, so erstreben wir die Gesundheit, auch wenn wir, wie das Heer für den Krieg, für den Kampf gegen die Krankheit rüsten."
Teilweise experimentierten die Mediziner an den ihnen ausgelieferten Patienten, manche forderten die Gehirne der Ermordeten zur Forschung an, andere hofften in einer "gesäuberten" Versorgungslandschaft effektivere Therapien für die Überlebenden zur Verfügung stellen zu können (Schmuhl 2000, S. 41).
Die juristische und historische Aufarbeitung in Deutschland und Österreich verzögerte sich, viele der beteiligten Täter wurden nie verurteilt. Und das Sterilisierungsgesetz wurde auch von den Alliierten nicht zurückgenommen. Die lange vergessene Opfergruppe der Zwangssterilisierten wurde erst in den achtziger Jahren, als viele der Betroffenen schon verstorben waren, entschädigt.
Größere "Euthanasie"-Verfahren der Nachkriegszeit gegen Ärzte, Pfleger und Verwaltungspersonal fanden 1947 in Frankfurt am Main und Dresden statt. Insgesamt wurden in der Bundesrepublik sieben Todesurteile gefällt, davon wurden zwei vollstreckt. 29 Angeklagte wurden zu Freiheitsstrafen zwischen vier Monaten und lebenslänglich verurteilt. Bei 49 Personen kam es zu einem Freispruch, drei Verfahren wurden eingestellt. Das bisher letzte bundesdeutsche Verfahren wurde auf der Grundlage von Akten aus dem Bestand des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR angestrengt und endete 2005 mit einem Freispruch. (...)
Erste wissenschaftliche Untersuchungen nahm die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis (Platen-Hallermund 1947; Mitscherlich 1949). Erst ab den sechziger Jahren formierte sich die Forschung und wurde seit den achtziger Jahren konsequenter fortgeführt (Klee 1985; Dörner 1988; Friedlander 1995). Inzwischen gibt es eine größere Anzahl von Studien, in denen auch regionale Praktiken untersucht worden sind (Faulstich 1998; Sparing und Heuser 2001; Schmuhl 2003; Rotzoll u. a. 2010).
Letzte Aktualisierung: 10.04.2024