Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
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Psychiatrie Verlag

Die Belasteten - Eine Gesellschaftsgeschichte

Der promovierte Politikwissenschaftler und Historiker Götz Aly, unter anderem Mitherausgeber der "Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik", hat mit seinen publizistischen Bestsellern zu seiner jahrzehntelangen Forschung über die Ermordung psychisch Kranker zur Zeit des Nationalsozialismus dieses Wissen bereits seit dreißig Jahren erfolgreich ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Wesentliche Aspekte der NS-Krankenmorde

Sein neues Buch "Die Belasteten", das er im Untertitel "eine Gesellschaftsgeschichte" nennt, ist die Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte der NS-Krankenmorde, die er über Jahrzehnte in Manuskripten gesammelt hatte. Dazu gehören die "Aktion T4", die Ermordung erwachsener Anstaltspatienten, die 1941 in so genannten Heil- und Pflegeanstalten dezentral durchgeführte "wilde Euthanasie" und die bereits 1939 begonnene "Kindereuthanasie".

Eine von vielen Gänsehaut erzeugenden Thesen Götz Alys ist die Aussage, es habe keinen starken gesellschaftlichen und familiären Widerstand gegen die Morde an psychisch Kranken und Behinderten gegeben. Dass dieser Widerstand möglich gewesen wäre, zeigen erfolgreiche Proteste einzelner Angehöriger, beispielsweise gegen die Verlegung der Patienten, doch in den meisten Fällen, so Aly, sei jeder Protest ausgeblieben.

Einvernehmen der Angehörigen

Aly zitiert die Einschätzung des Nazi-Professors Werner Heyde, zeitweiliger Leiter der "Aktion T4", zur Reaktion auf die Krankenmorde: "In 80% sind die Angehörigen einverstanden, 10% protestieren, 10% sind gleichgültig." In psychiatrischen Anstalten hatten psychisch kranke Menschen, deren Angehörige sich nach ihnen erkundigten, größere Chancen zu überleben. Sie wurden seltener umgebracht als diejenigen, die von ihren Angehörigen im Stich gelassen wurden.

Diese Aussage Alys widerlegt die weit verbreitete These, dass das NS-Regime Behinderte ermordet hätte ohne das Einvernehmen der Angehörigen. Den belasteten Angehörigen wurde mit dem Begriff Euthanasie ("schöner Tod") vorgegaukelt, die Spritze oder das Gas würde die "Erlösung" des Pfleglings bedeuten, und dieser Euphemismus erhöhte offenbar die Bereitschaft zu den Maßnahmen. Auch das Vorhaben der Nazis, diese "unnützen Esser" und "Ballastexistenzen" eliminieren zu müssen, wurde von den meisten Köpfen der Bevölkerung geteilt.

Passive Duldung der Krankenmorde

Alys Kritik kulminiert in der verstörenden These, dass es die passive Duldung der Krankenmorde durch die Deutschen gewesen sei, die das NS-Regime zum organisierten Mord an den Juden geradezu ermutigt habe. Millionen Deutsche, so Aly, gingen im Hinblick auf die Krankenmorde "ein uneingestandenes, nirgends dokumentiertes und das Gewissen erleichterndes Komplizentum" mit dem Regime ein. Laut Aly ist heute jeder achte erwachsene Deutsche in seiner Familie direkt mit einem Menschen verwandt, der zwischen 1940 und 1945 ermordet wurde, weil er als "erbkrank" galt, als verrückt, lästig, peinlich, unnormal, chronisch krank, gemeingefährlich oder arbeitsunfähig.

Die bis heute andauernde Scham um die ermordeten Verwandten und die Tatsache, dass bis heute die Namen der ermordeten Kranken an Denkmälern etc. nur abgekürzt vorkommen (dagegen wurden Juden und Kommunisten als Opfer der Nazis seit Beginn der Verfolgung und Ermordung immer schon mit vollem Namen genannt), durchbricht Aly in seinem neuen Buch bewusst: Er bringt einige der Opfer zum Sprechen.

Die Namen aller Ermordeten

Aly findet den Umgang respektive diese Besessenheit um Daten- und Opferschutz und die Rücksichtnahme auf die Angehörigen falsch und fordert ein zentrales Register, in dem alle Namen der Ermordeten veröffentlicht werden sollen. Nur so könnten wir endlich erfahren, so Aly, ob in unserer eigenen Familie auch Nazi-Opfer gewesen seien. Nicht noch ein weiteres „Erinnerungsgroßmöbel“, sprich ein neues Denkmal für deutsche Nazi-Opfer sei nötig, sondern die endliche Offenlegung der Namen der getöteten Menschen, um so kollektiv die (falsche) Scham über deren Existenz zu überwinden und endlich selbstverständlich die Recherche in der eigenen Familie beginnen zu können.

1982 lehnten drei wissenschaftliche Gutachter Alys Habilitationsvorhaben zur "Euthanasie" ab, auch wenn einer von ihnen Götz Alys Fähigkeiten erkannt hatte: Er entspräche zwar nicht den üblichen Vorstellungen von wissenschaftlicher Karriere, verwende aber zwar eigenwillige, jedoch durchaus sachgerechte Methoden und habe ein innovatives Forscherpotenzial, das gefördert werden sollte ... Da Götz Aly durch die Ablehnung einer Förderung aus der Welt der Wissenschaft gezwungen war, sein Auskommen freiberuflich mit eigenen Buchveröffentlichungen zu sichern, ist es eine Freude, dass Aly, 31 Jahre später, auch mit seinem aktuellen Buch immer noch den Nagel auf den Kopf trifft.

Mit seinen überfälligen Forderungen rennt Götz Aly hoffentlich offene Türen ein. Schließlich brauchen wir eine Solidargesellschaft, die endlich nicht nur das Ganze benennt, sondern die einzelnen Menschen.

Brigitte Siebrasse in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 27.03.2017